Reine Retrospektiven findet er langweilig: Im Berliner Martin-Gropius-Bau zeigt der in Indien geborene britische Bildhauer Anish Kapoor daher eine grandiose Schau, die zur Hälfte aus ganz neuen Arbeiten besteht.
„Skulptur ist die Transformierung von Material in einem Prozess“, definiert der britische Bildhauer Anish Kapoor sein Metier. Die internationale Kunstwelt ist sich weitgehend einig, dass der 1954 in Bombay geborene Brite indischen Ursprungs, der 1973 nach London kam, der bedeutendste Bildhauer Großbritanniens ist. Manche behaupten gar, Kapoor, der die Gattungsgrenzen zwischen Bild, Skulptur, Bühne und Performance immer wieder radikal aufhebt, sei der wichtigste Bildhauer der Welt. „Kapoor in Berlin“ ist eine umfassende Ausstellung des Materialvirtuosen betitelt, die der britische Gastkurator Sir Norman Rosenthal jetzt im Martin-Gropius-Bau eingerichtet hat.
Kapoor ist bekannt dafür, seine Materialien bis an die Grenze des physikalisch Machbaren zu treiben. 70 Werke aus Stein, Stahl, Wachs, Pigmenten, PVC und High-Tech-Materialien, darunter auch Kapoors bekannte Spiegelarbeiten, in denen der Betrachter sich und seine Umgebung in unterschiedlichen Graden der Verzerrung immer wieder neu entdecken kann, sind zu sehen. Gut die Hälfte der Arbeiten ist extra für den Gropiusbau entstanden.
Anish Kapoor hat sich bei der Einrichtung seiner Schau mit der Geschichte des Gebäudes, aber auch mit der deutschen Vergangenheit auseinandergesetzt. In den Lichthof des Martin-Gropius-Baus, der in der 1982 ebenfalls von Rosenthal kuratierten, bahnbrechenden Ausstellung „Zeitgeist“ von Joseph Beuys mit der Arbeit „Hirschdenkmäler“ bespielt wurde, hat er die große Installation „Symphony for a Beloved Sun“ gebaut – eine Hommage ebenso an Beuys wie an Kasimir Malewitschs Oper „Der Sieg über die Sonne“, die 1913 uraufgeführt wurde.
Vor einer kreisrunden, roten Sonnenscheibe ragen schwarze Förderbänder in die Luft, die aus den Eingeweiden des Gebäudes heraus in langsamem Tempo rote Wachsblöcke nach oben bewegen. Diese stürzen mit einem lauten Klatschen auf den Steinboden und produzieren so eine sich selbst generierende skulpturale Form.
Doch es gibt in dieser die Dialektik von Werden und Vergehen, Gut und Böse, Intimität und Monumentalität immer wieder vorantreibenden Schau noch andere Echtzeiterlebnisse. Alle zwanzig Minuten heißt es: „Bitte die Ohrenschützer aufsetzen“. Unter den spannungsgeladenen Blicken des Publikums schreitet dann ein Museumsmitarbeiter im schwarzen Overall zur Tat: Er greift eine mit Wachs und roten Farbpigmenten gefüllte Papp-kartusche, legt sie in eine mit Druckluft betriebene Kanone und schießt das Gemisch mit einem unüberhörbaren Knall in eine Ecke. Rote Spritzer und übereinander gelagerte Materialbrocken auf Wänden, Decke und Boden erinnern an Blut und Fleisch. Sie füllen nach und nach – die Ausstellung läuft bis Ende November – den Raum und verleihen ihm eine ambivalente Atmosphäre zwischen „Drip Painting“ à la Jackson Pollock und der rohen Gewalt eines Erschießungskommandos.
„Shooting into the Corner“ heißt diese 2008 erstmals realisierte Arbeit, die Kapoor jetzt für Berlin neu konzipiert hat. „Rot ist keine Abstraktion sondern eine unserem körperlichen Sein innewohnende Realität. Eine dunkle Wahrheit, die jeder von uns kennt“, sagt Kapoor, dem bewusst ist, dass sich nur wenige Meter von hier die Kellerverliese und Folterräume von Gestapo und SS befunden haben. Kunst, die folgenschwere geschichtliche Ereignisse abbilden will, läuft immer Gefahr, diese zu verkitschen. Doch Anish Kapoor, dem Kurator Rosenthal einen untrüglichen „Instinkt für Materialien und die Potenziale, die sie in sich bergen“ attestiert, gelingt es, die benachbarte „Topographie des Terrors“ in eine suggestive Metaphorik zu übersetzen, ohne sie zu banalisieren.
Kapoor in Berlin
Martin-Gropius-Bau, Berlin
bis 24. November 2013. Mi-Mo 10-19 Uhr. Di geschlossen
Katalog
Verlag Walther König, 368 S., 220 Abb., 34 Euro (Museum), 48 Euro (Buchhandel)
www.gropiusbau.de
www.anishkapoor.com