Jeder Abzug einzigartig: Das Hamburger Bucerius Kunst Forum zeigt, wie der Expressionist Ernst Ludwig Kirchner in seinem druckgrafischen Werk zu seinen Motiven und zu sich selbst fand.
Viele Künstler bedienen im Medium der Druckgrafik ein ganz eigenes Segment des Kunstmarktes. In heutzutage teils atemberaubend hohen Auflagen werden oft eingängige Motive unters Volk gebracht, die es auch weniger Betuchten ermöglichen sollen, ein signiertes Kunstwerk zu erwerben. Man denke nur an Damien Hirsts Schmetterlinge, Pillen, Totenköpfe oder Punktmotive, die es in unzähligen Varianten gibt. Für den deutschen Expressionisten und Mitgründer der Künstlergruppe „Brücke“, Ernst Ludwig Kirchner (1880-1938), dagegen stellte die Druckgrafik weit mehr dar. Er betrachtete sie nicht als bloße Reproduktionsmethode sondern als ganz eigenständige Kunstform und als experimentelles Feld, auf dem er die Motive für seine späteren Gemälde oft erst entwickelte. Über 2000 verschiedene druckgrafische Blätter sind erhalten. Jedes davon hat er eigenhändig gedruckt.
Die Ausstellung „Kirchner. Das expressionistische Experiment“ im Hamburger Bucerius Kunst Forum versammelt jetzt rund 130 druckgrafische Werke Ernst Ludwig Kirchners, darunter Radierungen, Lithografien, Linolschnitte, schwarz-weiße und vor allem mehrfarbige Holzschnitte. Kein anderer Künstler des deutschen Expressionismus hat ein derart umfangreiches und innovatives druckgrafisches Werk hinterlassen wie Kirchner.
„Kirchner ging es nicht darum, Auflagenwerke herzustellen. Ihm ging es darum, Kunstwerke herzustellen“, betont Magdalena Moeller, die Direktorin des Berliner Brücke-Museums, die die Ausstellung gemeinsam mit Ortrud Westheider, der Direktorin des Bucerius Kunst Forums, kuratiert hat. Und ganz anders als zum Beispiel Pablo Picasso hat er denn auch von vielen Motiven nur einzelne Exemplare oder ganz wenige Farbvarianten gedruckt – stets versehen mit der Bezeichnung „Handdruck“ oder „Eigendruck“.
„Die Formung musste ich oft erst durch viele graphische Techniken durchtreiben, besonders durch Holzschnitte, ehe ich so sicher hatte, daß ich das Bild malen konnte, frei und souverän“, so Kirchner. Anhand ausgewählter Gemälde verdeutlicht die Hamburger Ausstellung, wie sich einzelne Motive zunächst in der Druckgrafik herausschälen, um dann schließlich doch noch zur malerischen Ausführung zu gelangen.
Kirchner ist bekannt für seine markanten Formexperimente, die scharf geschnittenen Gesichter und in die Länge gezogenen Physiognomien seiner Protagonisten. Auch im Bereich der Druckgrafik bleibt er seinen bevorzugten Motiven treu. Nichts ist aus der Erinnerung heraus entstanden. Kirchner arbeitete immer direkt aus der Umgebung heraus, in der er sich gerade befand: Das konnten die Moritzburger Seen bei Dresden oder der Strand der Ostseeinsel Fehmarn sein, wo die Brücke-Maler und ihre weiblichen Modelle in ungehemmter und für die damalige Zeit provokanter Nacktheit den Sommer genossen.
Licht und Schatten liegen in Kirchners Biografie und Werk jedoch eng nebeneinander. Es konnte daher ebenso auch das Schweizer Sanatorium Bellevue in Kreuzlingen sein, wo Kirchner nicht nur seine Mitpatienten und deren Besucher sondern auch sich selbst, wie auf dem Blatt „Kopf des Kranken“ von 1917 in schonungsloser Direktheit porträtierte. Psychisch schwer erkrankt und zudem an den Händen zeitweise gelähmt, schuf er hier mit Hilfe der Pfleger einige seiner beeindruckendsten und gleichzeitig düstersten Blätter. Die Hamburger Schau versammelt zudem teils mondäne, teils ernüchternde Szenen aus Berlin: Flaneure, Cafés, Nackttänzerinnen, aber auch wüste Industrielandschaften und ein drastisch interpretiertes Eisenbahnunglück führen den hektisch erregten Tanz auf dem Großstadt-Vulkan am Vorabend des Ersten Weltkriegs eindrucksvoll vor Augen.
1923 zieht sich Kirchner dann ins schweizerische Davos zurück, wo er sich wieder verstärkt der Malerei zuwendet. Zutiefst enttäuscht über die Brandmarkung seiner Werke als „Entartete Kunst“ und aus Angst vor einem Einmarsch der Deutschen in die Schweiz, erschießt er sich im Sommer 1938 im Alter von nur 58 Jahren.
Auf einen Blick
Ausstellung: Kirchner. Das expressionistische Experiment
Ort: Bucerius Kunst Forum, Hamburg
Zeit: 29. Mai bis 7. September 2014. Täglich von 11-19 Uhr. Do bis 21 Uhr
Katalog: Hirmer Verlag, 238 S., 211 Abb., 39 Euro (Museum), 45 Euro (Buchhandel)
Internet: www.buceriuskunstforum.de