Per Du mit Marcel Duchamp und vielen anderen: Die Deichtorhallen/Sammlung Falckenberg in Hamburg-Harburg widmen dem italienischen Multimedia-Künstler Gianfranco Baruchello wenige Wochen vor seinem 90. Geburtstag eine umfangreiche Retrospektive
Wer auf der letzten Documenta auf der Suche nach einer ersten Orientierung innerhalb der Großkunstschau in der Rotunde des Museum Fridericianum vorbeischaute, stieß dort auf eine Ansammlung von kleinformatigen und fragilen „Übergangsobjekten“: Keramiken, Steine, Skizzen, Fotografien, Werkzeuge, zusammen-geschmolzene Artefakte aus dem im Bürgerkrieg bombardierten Nationalmuseum in Beirut und viele andere eher prekäre als repräsentable Dinge gab es in der Sektion mit dem Titel „Brain“ zu bestaunen.
Unter anderem auch eine Zeichnung des italienischen Künstlers Gianfranco Baruchello. Auf dem 1962 entstandenen Blatt mit dem Titel „Hypothalamic Brainstorming“ entwirft der Künstler ein allerdings schwer dechiffrierbares Diagramm der menschlichen Vorstellungskraft. Er illustrierte damit genau die Botschaft, die Documenta-Leiterin Carolyn Chrystov-Bakargiev dem Ausstellungsbesucher ohnehin mit auf den Weg geben wollte: Jede Orientierung ist bloß vorläufig. In einem im Herbst 2012 veröffentlichten Interview sagte Baruchello dazu: „Die Verarbeitungsprozesse unseres Gehirns (Wahrnehmen, Vorstellen, das Produzieren von Hypothesen) verlangen von uns, dass wir uns von Stereotypen lossagen, die konventionelle Logik außer Kraft setzen und der behaupteten Folgerichtigkeit von Ursache und Wirkung ein Ende setzen.“
Der 1924 in Livorno geborene Gianfranco Baruchello gehört nicht erst seit der vergangenen Documenta zu den von Ausstellungsmachern, Künstlerkollegen oder Philosophen wie Carolyn Chrystov-Bakargiev, Massimilano Gioni, Hans Ulrich Obrist, Maurizio Cattelan oder Umberto Eco geschätzten Vertretern der Nachkriegsavantgarde. Dem breiteren Publikum sind die Gemälde, Zeichnungen, Filme, Videoarbeiten, Installationen und artistischen Alltagsinterventionen des auch mit 89 Jahren noch aktiven Italieners jedoch weitgehend unbekannt.
Eine groß angelegte Retrospektive mit knapp 150 Arbeiten aus der Zeit zwischen 1957 und 2014 in der den Hamburger Deichtorhallen als Dependance dienenden Sammlung Falckenberg soll das jetzt ändern. Ab November ist die Schau dann im Karlsruher ZKM zu Gast.
Baruchello ist kein Künstler der großen Gesten. Kunst begreift er als ein polyzentrisches Feld voller Hypothesen und Möglichkeiten. Wer sich auf das Abenteuer einlässt, sich in die Welt seiner oft kleinteiligen, vielfach verschlüsselten Arbeiten zu vertiefen, begibt sich gleichsam mit dem Künstler in einen Kosmos der Ungewissheiten. Auf diagrammartigen Zeichnungen und Malereien, Collagen und Decollagen begegnen dem Betrachter an Alphabete erinnernde Zeichensysteme, Pfeile, Wörter, Zahlen, Zeitungs-ausschnitte und Landkartenausrisse.
Ab Mitte der 1960er Jahre entstehen zunehmend auch Objektkästen, teilweise an Miniaturbühnenbilder erinnernde Ensembles von Zeichnungen, Alltagsobjekten und Pappfiguren. Die Plexiglasversiegelung benutzt Baruchello häufig als zweite Zeichnungsebene, um so eine räumlichere Wirkung zu erzielen. Zu den Großen seiner Zeit wie etwa Marcel Duchamp unterhielt Baruchello enge Freundschaften. So ist in der Hamburger Schau auch eine Glasflasche zu sehen, in die Duchamp, der Erfinder des Ready-made, Zigarrenrauch geblasen hat, um sie gleich darauf von Baruchello versiegeln zu lassen.
Dass seine Kunst zwar durchaus spannenden Stoff zur Anschauung bildet, sich aber einer inhaltlichen Analyse weitgehend verweigert und so den meisten Betrachtern für immer ein Rätsel bleiben wird, ist Baruchello klar. Doch er nimmt es scheinbar mit Gleichmut: „Wenn ich die Bilder einem Busfahrer zeige, werde ich vermutlich zu hören bekommen: «Davon verstehe ich überhaupt nichts«. Das ist traurig, aber nicht verwunderlich. Aber wenn ich sie einem Intellektuellen zeige, muss ich feststellen, dass dieser noch viel weniger erreichbar ist.“ Ausstellung: Gianfranco Baruchello. Certain Ideas. Retrospektive
Ort: Deichtorhallen Hamburg/Sammlung Falckenberg, Hamburg-Harburg
Zeit: bis 28. September 2014. Die Ausstellung ist nur im Rahmen einer Führung möglich: Do/Fr 18 Uhr, Sa 15 Uhr, So 12, 15 und 17 Uhr. Anmeldung unter sammlungfalckenberg@deichtorhallen oder Tel. 040-32506762
Katalog: Verlag Electa, 482 S., 300 meist farb. Abb., in englischer Sprache, 55 Euro
Internet: www.deichtorhallen.de