Warum sind wir so, wie wir sind? Werden wir frei geboren, oder bestimmt eine planetarische Konstellation unser Leben bis zum Ende? Müssen alle Dinge so kommen, wie sie kommen werden? Haben wir die Wahl? Können wir uns ändern? Es geht um folgende Geschichte.
An der Universität von Oxford erhält ein junger Deutscher eine Ausbildung zum Technokraten. Er lernt, Informationen in kurzer Zeit zu verarbeiten, zu einer These zu verdichten und diese selbst dann zu verteidigen, wenn er nicht an sie glaubt. Man präsentiert ihm volkswirtschaftliche Modelle und zeigt ihm, welche Voraussetzungen erfüllt werden müssen, will man Wachstum, Arbeitslosigkeit oder Inflation um einige Prozentpunkte nach oben oder nach unten verschieben. Wie seine Freunde spielt auch er mit dem Gedanken, sein Geld als Unternehmensberater oder Investmentbanker zu verdienen. Wenn er träumt, dann träumt er von den 20er Jahren. Er ist stolz und kalt; das übrige England, das sich außerhalb der Universitätsmauern abspielt, findet für ihn und seine Freunde nicht statt. Auch der „Second Summer of Love“, der von Manchester aus die Clubkultur revolutioniert, geht spurlos an ihnen vorüber, sie haben nicht einmal davon gehört.
Nach seiner Graduierung zum Bachelor of Arts wechselt er an die London School of Economics. Er erlebt den Rücktritt von Margaret Thatcher und sieht marxistische Professoren im Walzerschritt durch die Korridore tanzen. Mit dem Fall der Berliner Mauer beginnen die 90er Jahre, die bis zu den Anschlägen vom 11. September andauern werden; vielleicht nur aus Hilflosigkeit wirft Großbritannien seinen Blick zurück auf die sechziger Jahre. In Kensington erwirbt der Technokrat ein Batikhemd, setzt sich auf eine Wiese und versucht, Zigaretten zu drehen. Dabei reift in ihm der Entschluss, über Land durch die zerfallende Sowjetunion, China und Nepal nach Indien zu reisen. Eine Freundin rät ihm, die Reise in Goa zu beenden. Er wird es nur bis Bombay schaffen und Asien mit dem unbestimmten Gefühl verlassen, eine Mission nicht vollständig zu Ende gebracht zu haben.
Dennoch ist etwas mit ihm geschehen: Während seine Freunde von den Bürotürmen der City of London verschluckt werden, sitzt er auf einem Kissen in Camden Town, liest Bücher von Hunter S. Thompson, hört Platten von Lou Reed und zieht nach Berlin. Seine Mission gibt sich weiterhin neoliberal, doch ist sie nun auch von Neugierde getrieben: Er promoviert über die Restrukturierung planwirtschaftlicher Betriebe; in Berlin, so glaubt er, werden Ost und West zu einer neuen Identität zusammen wachsen. Erst später wird er erkennen, dass seine Dissertation nicht das Protokoll einer Hochzeit, sondern das einer Unterwerfung sein wird.
Ein junger Hanseat vermietet ihm sein Zimmer im Stadtteil Moabit; das Zimmer ist Teil eines Netzwerks von Wohngemeinschaften, die Betriebswirte und Juristen aus der norddeutschen Tiefebene als Einflugschneise in die Hauptstadt benutzen. Das Eigentum der DDR wird in Görings ehemaligem Ministerium mit seinem Paternoster verscherbelt, Hasen jagen sich über den Potsdamer Platz, in Charlottenburg tragen Immobilienspekulanten blaue Hemden mit weißen Krägen und glauben, dass Berlin über Nacht wie London oder New York werden wird. Für den jungen Hanseaten jedoch hat sich die Stadt in der Gestalt eines riesigen Abenteuerspielplatzes entfaltet, sein Credo sind Techno und House. Er verwahrt Flyer, Bootleg-Tapes von Westbam und Marusha und unscharf geschossene Polaroids, die er von seinen Expeditionen vom Osten nach Hause bringt, in einem Konvolut aus vierzig Aktenordnern, die wie Botanisiertrommeln den Sockel seines Bettes bilden. Darauf liegt nun der Technokrat; seine Erinnerungen gewinnen an Pathos:
„Die Tage verbrachte ich in der Staatsbibliothek am Potsdamer Platz oder führte Interviews mit Mitarbeitern ehemals Volkseigener Betriebe in Treptow oder Marzahn. Menschen, die dabei waren, ihren Boden unter den Füssen zu verlieren, luden mich zu „Beratungen“ in Zimmer mit ledergepolsterten Türen, in denen Zigaretten der Marke Cabinet in Buketts auf dem Sofatisch standen. An den Abenden lag ich über dem Kuriositätenkabinett des Hanseaten auf einer Ikea-Matratze, studierte das Gesicht des Manns im Mond, der über dem Moabiter Gefängnis durch die Dachluke spähte, und hörte Tom Waits’ „Waltzing Matilda“ in einem nicht enden wollenden Loop. Ich kannte in Berlin nur wenig Leute, und das, was ich in England an sozialen Fähigkeiten erlernt hatte, erwies sich an Turmstraße und Kottbusser Tor als vollkommen nutzlos. Die in den Aktenordnern enthaltenen Zeichen waren die einzigen Wegweiser, die ich hatte, um mich in dem neuen Umfeld zurecht zu finden. So begann ich, alleine auszugehen.
Das war für mich eine große Veränderung. Früher hatte ich das Haus nur verlassen, um Freunde zu treffen; nun befand ich mich in einer Stadt, in der Urbanität an sich ins Zentrum des Interesses gerückt war. Und das Berlin dieser Zeit war größer und düsterer als das Berlin der heutigen Tage. Es war das Berlin der Unterversorgung, das Berlin des Filmemachers Fred Kelemen, ein Berlin, in dem man immerzu das Gefühl hatte, kilometerweit zu laufen, zu frieren, keine Gaststätte zu finden und irgendwann vergewaltigt zu werden. Die Stadt, so schien es mir, hatte sich im Stolz auf die eigene Härte verbunden, kaufte in einer Supermarktkette namens „Bolle“ ein, rasierte sich den Schädel, frequentierte Darkrooms und torkelte morgens um acht Uhr aus Eckkneipen am Hermannplatz, um die Kinder zur Schule zu bringen.
Ich hatte mir ein Fahrrad gekauft, auf dem ich in der Nacht Runden um den verwaisten Reichstag zog; dann bog ich nach Norden, Osten oder Süden ab, um dem Ruf der Botanisiertrommeln zu folgen. All das spielte sich vor der Zeit des Internets ab, und so war es die größte Herausforderung, an Hinweise auf eine gute Party zu gelangen.
Die beste Informationsquelle waren Handzettel, denen es in den interessanteren Fällen gelang, durch den Samisdat-Charme des Amateurhaften um sich herum ein gewisses Geheimnis zu erzeugen. Sie wurden entweder in den Clubs sel-ber verteilt und richteten sich dann nur an Insider, die ihre Initiierung in die Mysterien des Nachtlebens bereits erfahren hatten. Oder sie lagen auf den Theken von Geschäften wie denen in der Schöneberger Goltz Straße aus, wo man Clubmusik und dazu passende Leibchen kaufen konnte, die ein findiger Fabrikant mit den Logos von Waschmitteln und Handcremes bedruckt hatte.
Ich möchte an dieser Stelle gestehen, dass Musik für mich bis zu dieser Zeit kein Identifikationsmittel gewesen war. Ich hatte mich niemals des Besitzes einer Plattensammlung gerühmt, ich hatte niemals Luftgitarre gespielt, und ich hatte gerade erst gerade gelernt, was „auflegen“ bedeutet. Nun drehte sich alles um Rave; seine Bedeutung bestand darin, dass das Publikum nicht mehr den Musiker, son-dern sich selber feierte. Der Sommer wurde lang und heiß, die Love Parade kam. Am 1. Juli 1995 verabredete ich mich mit Bekannten aus meiner Wohnung in der Akba Lounge am Prenzlauer Berg.
Je mehr sich der Club füllte, desto enger rückte meine Gruppe zusammen; je lauter die Musik spielte, desto schriller wurden ihre Stimmen. Ich erkannte eine unangenehme Koketterie in dem kollektiv gefällten Urteil, man sei für den Abend „falsch angezogen“. In ihm offenbarte sich nicht nur das Eingeständnis von Men-schen, die sich alle eindeutig für „wohlerzogen“ hielten, mit einer Etikette gebrochen zu haben und diesen Fehler beheben zu wollen – vielmehr stand dahinter die unaus-gesprochene Haltung, dass es in Wahrheit nicht sie waren, die sich falsch gekleidet hatten, sondern der Rest der Welt um sie herum.
Erst später sollte ich lernen, dass in Deutschland nicht nur Wessis lieber unter Wessis und Ossis lieber unter Ossis bleiben, sondern dass Honoratioren vorwiegend nur mit Honoratioren verkehren, Landwirte nur mit Landwirten, stellvertretende Bereichsleiter nur mit stellvertretenden Bereichsleitern, Grüne nur mit Grünen und Kreative nur mit Kreativen; die damals in den Feuilletons herausposaunte Hoffnung, dass sich die Berliner Republik zu einem Salon entwickeln würde, in dem sich verschiedene Milieus miteinan-der vermischten, erwies sich aber bereits schon an diesem Abend als Illusion. Ohne mich zu verabschieden, stand ich auf und stürmte wütend aus dem Lokal.“
Hoppla! Was geschieht? Wenige Augenblicke später sehen wir den Technokraten auf seinem Mountainbike über das Kopfsteinpflaster die Prenzlauer Allee hinunter hoppeln. Die mürben Häuser mit ihren Balkonen sind abgedunkelt wie im Krieg, nur in einem Fenster brennt Licht, drei Lesben sitzen im Unterhemd um den Abendbrottisch, in der Ferne blinkt der Fernsehturm. Ein Wind bläst, der Technokrat dreht sich nicht um, er fühlt sich verloren und allein. Tatsächlich befindet er sich zwi-schen den Zeiten, in dem köstlichen Moment einer totalen Freiheit, in dem das Alte aufgehört, das Neue aber noch nicht begonnen hat. Er er-wägt, ob er nach Hause fahren oder, einmal mehr, dem Ruf der Botanisiertrommeln folgen soll. Auf der Rampe des verwaisten Reichstags bringt er sein Fahrrad zu einem abrupten Halt. Über seinem Kopf versprechen Buchstaben düster: „Dem Deutschen Volke“.
„In meiner Tasche befand sich ein Flyer: Auf einer Bergkuppe beteten drei Menschen zu einem schwarzen Mond, der sich in einer Korona aus Licht vor die Sonne geschoben hatte. DJs waren Sangeet, Marcos Lopez, Digital Joy und Goa Gil, es würde eine Tanzvorstellung von Lalitâ Sana Dance & Evalution Morgana geben, und darüber hieß es in roten Lettern: „The Moon & The Sun. Psychedelic Summer Event.“ Diese Worte riefen in mir Erinnerungen an Batikhemden wach, an selbst-gedrehte Zigaretten und eine Wiese in Kensington. Der Ort, auf den der Flyer ver-wies, war ein Gebäude am S-Bahnhof Friedrichstraße, in dem man zu DDR-Zeiten dem scheidenden Westbesuch hinterhergewinkt hatte. Der Volksmund nannte ihn deswegen den „Tränenpalast“.
Die Frau an der Kasse hatte sich ein Ornament von der Größe eines Fingernagels zwischen die Augenbrauen geklebt, das indische Bindi. Es roch nach Räucherstäbchen und Patschuli, und durch den Vorhang dahinter knatterte eine mir unbekannte Musik. Ich teilte den Stoff und trat in die Bahnhofshalle. Ihre Wände waren aus Glas und wirkten auf mich wie Kirchenfenster.
Alles in dieser Kathedrale befand sich in konstanter Bewegung. Mädchen in Schlaghosen hatten einander Blumen ins Gesicht gemalt und stapften nun mit weichen, fließenden Bewegungen über die Tanzfläche. Männer mit Zöpfen und Vokuhila watschelten und wuselten zwischen ihnen hindurch; einer von ihnen verriet mir im Laufe der Nacht, er sei zu DDR-Zeiten Mitglied der Kampfschwimmer gewesen. Doch es gab auch Greise und Kinder und einen Tisch in der Ecke, hinter dem eine Frau am Boden saß (wie im Aschram) und milchigen Tee, Kuchen und Bananen verkaufte. Unter einer Lichtprojektion erhob sich der DJ, ein älterer Mann mit Dreadlocks bis zum Po, der Be-wegungen machte, als stünde er bis zu den Hüften in Teig.
Zu einem warmen Bass legte er Tonspur um Tonspur übereinander, setzte sie für einige Takte aus und ließ sie dann mit einem Knalleffekt in Kaskaden wieder über den Raum hereinbrechen, der jede neue Idee mit Trillerpfeifen und Jubel-schreien feierte. Am dessen hinteren Ende saß ich zunächst nur mit einer Flasche Becks auf der Treppe, doch dann stand ich auf, und es war um mich geschehen.
Beim Teutates! Mir war, als würden sich die Wolken teilen und als würden dort, über sich drehenden Fetzen von Nebel und Rauch, Streitwagen direkt in die Sonne hinein galoppieren. Ich sah Astarte und Nebukadnezar und Thor und Odin mit aufgestellter Lanze, um dessen Schaft die Raben Hugin und Munin flatterten. Manchmal donnerte die Musik, doch dann war es auch eine sanfte Musik, Musik wie ein Netzwerk aus Laserstrahlen, Musik fast sichtbar und greifbar. Musik, über die man klettern konnte, bei der man über Neonfarben stieg und durch dreidimensionale Computerräume, in denen die Temperatur über die Haut perlte und die Luft voll wunderbar fiepender Gerüche war.
Und was man zu dieser Musik nicht alles machen konnte! Es gab Hände, Händchen und liebe, lustige, flirrende Finger, Finger wie Bienen und süße Insekten, die vor dem Gesicht durch die Luft flatterten. Man konnte die Fäuste ballen vor der Stirn, es war ein Knubbeln und Knobeln und Klopfen an verschlossene Türen, und hatte man sich mit jemandem verbunden, dann ging die Türe auf, Pupillen tauchten ineinander und Menschen fielen sich in die Arme, um dann über reines Land weiter durch den Tränenpalast zu marschieren. Die Musik war leicht, leicht und schwebend wie Vogelzwitschern und Schmetterlinge und kleine, schmatzende Seifenhändchen, nun gut; – doch es gab auch andere Momente, in denen alles Mythos war, in denen es keine Melodien mehr gab, und man nur die rhythmisch am Boden aufschlagenden Füße zu hören glaubte mit ihrem gleichmäßigen „Scharr, Scharr, Scharr“, „Scharr, Scharr, Scharr“, „Scharr, Scharr, Scharr“…
Irgendwann, es war Morgen geworden, wurden die Rollos der Fenster gehoben. Die Strahlen der aufsteigenden Sonne fluteten den Raum, ein Schrei zerriss die Menge, und alle tanzten nun dem Licht entgegen.
Ich muss gestehen, dass ich bald nach dieser Nacht meine erste Reportage schrieb und veröffentlichen durfte. Es war ein Text über zwei BWLer in Prag, die in Clubs gehen und sich gegenseitig Dinge sagen, die eigentlich niemanden interessieren. Sie wurde in der deutschen Ausgabe des Musikmagazins „Rolling Sto-ne“ veröffentlicht, und ich war darauf mächtig stolz. Vielleicht müsste ich jetzt auch erzählen, wozu ich mich später alles habe hinreißen lassen für die wenigen Reportagen, die ich geschrieben habe, und für die vielen Reportagen, die ich nur habe schreiben wollen. Ich müsste erzählen, wozu ich mich alles habe verführen lassen, durch die Musik und diese Mädchen mit den Blumen im Gesicht. Ich müsste erzäh-len, was mir dabei widerfahren ist, welche Berge ich bestiegen und welche Wüsten ich durchquerte habe, als ich, für verrinnende Zeit, zu einem der sinnlos vor sich hin tanzenden Staubnomaden geworden bin. Ich müsste erzählen von Olivenbäumen, von Dixieklos und von indischen Wellen am Strand.
Ich müsste erzählen von der Nachbarschaft auf einem Festivalgelände, von Stiernackenprolls, Feuerwerkskörpern, Regen und zusammen brechenden Zelten. Vielleicht müsste ich auch erzählen, dass am Ende nicht alles so geklappt hat, wie ich es mir vorgestellt habe, und dass ich mich eines Tages fragen würde, ob die Dinge so haben kommen müssen, wie sie gekommen sind. Irgend jemand hat einmal behauptet, man hätte mir in dieser Nacht etwas ins Glas gegeben, doch das entspricht nicht den Tatsachen. Ich war damals nicht mehr und nicht weniger als dies: Ein stocknüchterner BWLer auf den Treppenstufen des Tränenpalasts in Berlin. Ich hielt eine Flasche lauwarmes Bier in der Hand, und in der Nahrungskette des Rock’n’Roll kam ich nicht an erster Stelle. Doch die Musik jazzte, und sie schmetterte, und sie sengte vom Himmel her-ab, und ich lag niedergestreckt unter ihr, und es gab nichts mehr, was ich gegen sie auszurichten vermochte.“
Wer stiehlt hier wessen Biografie? Vereinnahmt der Autor das Leben des Technokraten, oder obsiegt der Technokrat über den Autoren? Es gibt zwei Arten, diese Geschichte zu lesen. Eine Art ist diese:
Diese Geschichte ist die Geschichte eines Aufbruchs. Der Technokrat ist das Produkt eines Systems, er ist Form ohne Inhalt. Sein eingesperrtes Herz such einen Ausweg und findet, in der seltsamen Ökologie der Dinge, was es nun mal finden muss. Der Kampf um die eigene Seele beginnt, er wird ihn ein Leben lang begleiten. Im Konflikt beginnt er zu schreiben, irgendwann wird er zum Dichter.
Die andere Art ist jene: Seit dem Abend im Tränenpalast ist es um die Karriere des Technokraten geschehen. Die inneren Welten haben obsiegt, er wird nie wieder festen Boden unter die Füße bekommen. Zwanzig Jahre später vagabundiert er noch immer durch die Welt, um dem Ruf der Botanisiertrommeln zu folgen. Er schreibt selten, keiner liest’s. Seine Geschichte ist die Geschichte einer Verwirrung. Quos vult perdere deus, prius dementat. „Wen Gott verderben will, verblendet er zuvor.“