Pünktlich zum 90. Geburtstag: Die Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle zeigt jetzt die erste große Retrospektive der rumänischen Künstlerin Geta Brătescu außerhalb ihres Heimatlandes.
„Für mich ist die Linie die Essenz. Das Zeichnen die Grundlage meiner Sprache. Ich zeichne mit einem Bleistift und ich zeichne mit Scheren, mit einem Füller, mit allem Möglichen. Meine späten Collagen sind eine Art indirekten Zeichnens“, sagt die Künstlerin Geta Brătescu, die in ihrer Heimat Rumänien ungleich berühmter ist als hierzulande.
Das zu ändern, ist das erklärte Ziel einer großen Retrospektive, die jetzt in der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle zu sehen ist. Brigitte Kölle, die Kuratorin der Schau, präsentiert Brătescu als vierte Künstlerin innerhalb einer 2012 begonnenen, lockeren Reihe zu weiblichen Künstlern, die erst sehr spät den Durchbruch schafften oder aber sich gegen teilweise erhebliche Widerstände eines männlich dominierten Kunstbetriebs durchsetzen mussten. In den Jahren zuvor waren bereits Louise Bourgeois, Eva Hesse und Gego alias Gertrud Louise Goldschmidt zu sehen.
Geta Brătescu (*1926)
Ohne Titel, 2012
Collage, 21 x 30 cm
Courtesy of the artist, Galerie Barbara
Weiss Berlin and Ivan Gallery Bucharest
Foto: Jens Ziehe
Nun also Geta Brătescu: Die 1926 in einer rund 60 Kilometer von Bukarest entfernten Kleinstadt geborene Zeichnerin, Fotografin, Filmerin, Buchillustratorin, Objektkünstlerin, Performerin und Autorin hat auf ihren großen Durchbruch im Westen ziemlich lange warten müssen. Doch dann ging alles ganz schnell: 2012 zeigte Okwui Enwezor sie auf der Triennale in Paris, 2013 lud Massimiliano Gioni sie auf die Biennale in Venedig ein. Mittlerweile befinden sich ihre Werke in den Sammlungen des New Yorker MoMA, der Londoner Tate Modern oder des Pariser Centre Pompidou.
Was Ausstellungsmacher und Betrachter ihrer Arbeiten gleichermaßen fasziniert, ist die enorme Sensibilität, ja fast schon Demut, die Brătescu ihren zumeist „armen“ Materialien entgegenbringt. Papier, Papiermaché, Stofffetzen, Baumwollfäden, benutzte Teebeutel, aus einem Fluss geborgene Steine, Holz, ein alter Spiegel. Mehr braucht Brătescu nicht, um mittels Schichtungen, Faltungen, Verknotungen, Stauchungen, Reihungen, Einfärbungen und anderen ebenso simplen wie effektvollen Methoden ihr Material zum Sprechen zu bringen.
Geta Brătescu (*1926)
Hypostasis of Medea VIII [Die Hypostase
der Medea VIII], 1980
Farbiger Zwirn auf Textil, 85 x 60 cm
Hauser & Wirth Collection, Switzerland
Foto: Stefan Altenburger Photography
Zürich
Ihre Themen sind dabei äußerst vielfältig. In den Medien Film und Fotografie steht häufig der eigene, teils fragmentierte Körper im Zentrum, oft auch im Kontext des Ateliers als Ort künstlerischer Produktion. Ihre Textilobjekte und Tapisserien wiederum sind häufig von Werken der Weltliteratur inspiriert. Neben Kafka, Goethe, Beckett oder Brecht dominieren hier auch antike Vorlagen, insbesondere die ambivalent aufgeladene Frauenfigur Medea aus der griechischen Mythologie.
Geta Brătescu, Alteritate, 2002/2011
Fotografie, 9-teilig, je 50 x 50 cm
© courtesy of the artist, Ivan Gallery und
Galerie Barbara Weiss
Foto: Aurora Kiraly
Abstraktes und Gegenständliches, selbst aufgestellte, strenge Spielregeln und spontane Gesten treffen in ihrem Werk permanent aufeinander. Natur trifft auf Technik. Transparentes und Obskures begegnen sich und lösen sich ineinander auf. Es ist eine Kunst der dialektischen Gegensätze, aber auch der Verschmelzungen. Mittels gegenläufiger Strategien überführt Brătescu ihr Material in immer wieder neue Form- und Sinnzusammenhänge, die unterfüttert sind von Elementen der eigenen Biografie, den Stoffen und Mythen der Weltliteratur, der geheimnisumwitterten Sagenwelt des Balkans und nicht zuletzt auch einer existentialistischen Weltsicht und einem feinsinnigen Humor.
Geta Brătescu (*1926)
Autoportret cenzurat [Zensiertes
Selbstporträt], 1978
Collage auf Papier, 31 x 20,5 cm
Kontakt. The Art Collection of Erste Group
and ERSTE Foundation
Foto: Ștefan Sava
Das alles ist jetzt auf einer ganzen Etage der Galerie der Gegenwart zu sehen. Und natürlich auch die eingangs erwähnten, wunderbar frisch wirkenden Collagen und Zeichnungen. Denn ganz ähnlich wie der große Henri Matisse, der sich im fortgeschrittenen Alter ebenfalls ganz auf das „Zeichnen mit der Schere“ konzentrierte, lässt auch Geta Brătescu seit einigen Jahren alle anderen künstlerischen Medien ruhen, um sich ganz auf ihre abstrakten, aus Kreisen und irregulären Farbflächen zusammengesetzten Papierarbeiten zu konzentrieren.
Geta Brătescu (*1926)
Magneți în oraș [Magnete in der Stadt], 1974
Fotomontage, 51,5 x 72,5 cm
Collection of MNAC – National Museum of
Contemporary Art, Bucharest
Courtesy of the artist and Ivan Gallery
Bucharest
Foto: Ștefan Sava
Auf einen Blick
Ausstellung: Geta Brătescu – Retrospektive
Ort: Hamburger Kunsthalle – Galerie der Gegenwart
Zeit: bis 7. August 2016. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr
Katalog: Snoeck Verlag, 192 S., 110 farbige, 15 s/w Abb., 29,80 Euro
Internet: www.hamburger-kunsthalle.de