Zumutung oder geschenkte Zeit: Die Hamburger Kunsthalle zeigt jetzt in der Galerie der Gegenwart in der Ausstellung „WARTEN. Zwischen Macht und Möglichkeit“, wie das Warten unseren Alltag bestimmt – aber auch, wie wir es produktiv nutzen können
Fünf Minuten, zehn Minuten, eine Viertelstunde. Warten gehört zum Alltag. Egal ob im Feierabendstau, an der Bushaltestelle, beim Check-in am Flughafen oder – der Klassiker – beim Hausarzt im Wartezimmer voller schniefender und dauerhustender Patienten. Wir alle kennen dieses enervierende Gefühl, diesen unproduktiven Zwischenzustand im minutiös durchgetakteten Tagesablauf.

Paul Graham (*1956) Waiting Room, Highgate DHSS, North London, 1984 Aus der Serie Beyond Caring Fotografie, 87 x 104 cm © Courtesy of the artist and carlier | gebauer
Doch halt: Bedeutet Warten wirklich immer nur etwas Negatives? Lässt sich der vermeintliche Zeitverlust nicht auch produktiv oder kreativ nutzen? „Wer es aushalten kann, zu warten, der gewinnt immer!“, diese Erkenntnis gab schon Robert Musil seinem „Mann ohne Eigenschaften“ mit auf den Weg.
Die Galerie der Gegenwart in der Hamburger Kunsthalle geht dem ambivalenten Phänomen des Wartens jetzt genauer auf den Grund. 23 internationale Künstler präsentieren in der groß angelegten Ausstellung „WARTEN. Zwischen Macht und Möglichkeit“ Videoarbeiten, Installationen, Skulpturen, Fotografien und Performances zum Thema.

Duane Hanson (1925–1996) Homeless Person, 1991 Mixed Media Sammlung Hannes von Gösseln, Berlin © Duane Hanson
Brigitte Kölle, die Kuratorin der Schau, will mit ihrer Auswahl aber auch zeigen, dass es sich durchaus lohnen kann, sich dem Warten wieder ganz bewusst auszusetzen: „Geduld und Langmut geraten in unserer Zeit, in der alles jederzeit und überall verfügbar erscheint, vermehrt aus dem Blick. Pausenfüllender Konsum und der minütliche Kontrollblick aufs Smartphone vertreiben das Warten und damit auch eine mögliche Zeit der Reflexion und des Bei-Sich-Seins.“
Genau das scheinen sich auch die unter einer Autobahnbrücke in Nigeria verharrenden Ölarbeiter in einer Videoinstallation des Belgiers David Claerbout zu Herzen zu nehmen. Einen kurzen, aber heftigen Regenschauer nutzen sie, um sich mit ihren Sinnen ganz dem Naturereignis auszusetzen.

Elmgreen & Dragset (*1961/1969) The Wait, 2013 Epoxyd Harz, Textilien, Aluminium Gerüst, Coco-Cola-Dose, Converse Schuhe, 240 x 120 x 60 cm © Courtesy of Galleri Nicolai Wallner, Kopenhagen Foto: Anders Sune Berg
Was gibt es noch zu sehen? Gleich im Lichthof der Galerie der Gegenwart hat das dänisch-norwegische Künstlerduo Elmgreen & Dragset ein Rollgerüst aufgebaut. Oben drauf sitzt ein barfüßiger blonder Junge mit Jeans und Kapuzenjacke, neben sich eine Coca Cola-Dose. Seine Turnschuhe liegen auf dem Boden. Worauf wartet er? Auf das Heranwachsen, die Erkenntnis der Welt? Oder nur auf seine Kumpel, die gleich um die Ecke biegen?
Der Düsseldorfer Fotograf Andreas Gursky ist mit vier Aufnahmen aus seiner frühen Serie „Pförtner“ (1982-1987) vertreten. Gursky porträtiert hier Empfangsmitarbeiter in den Respekt einflößenden Lobbys von Industrieunternehmen und Versicherungskonzernen. In ihrer statuarischen Ernsthaftigkeit erinnern sie an den unerbittlichen Wächter aus Franz Kafkas Türhüter-Parabel „Vor dem Gesetz“.

Ursula Schulz-Dornburg (*1938) Erevan-Parakar, 2004 Aus der Serie Bushaltestellen, Armenien Fotografie, Barytabzug, 30 x 40 cm © Ursula Schulz-Dornburg
Dass uns das Warten, insbesondere an Bushaltestellen, immer wieder heimsucht, stellen gleich mehrere Künstler unter Beweis. Von der Berliner Fotografin Ursula Schulz-Dornburg sind Schwarz-Weiß-Aufnahmen von modernistischen Bushalte-stellen in Armenien zu sehen – im Überschwang sozialistischer Utopien haben die Architekten ihrer Fantasie und dem Sichtbeton hier freien Lauf gelassen. Gleich gegenüber der Kunsthalle auf dem Glockengießerwall hat Michael Sailstorfer ein Wartehäuschen der besonderen Art aufgebaut: Der ursprünglich aus dem ländlichen Bayern stammende Künstler transferiert eine ausgediente Bushaltestelle aus seiner Heimat nach Hamburg und richtet sie mit dem Nötigsten ein: Bett, Küche, Wasser, Strom und WC – genau die richtige Grundausstattung, falls der Bus dann doch mal später kommt…

Roman Ondak (*1966) Good Feelings in Good Times, 2003 Inszenierte Warteschlange Performance, im ganzen Museum, Größe variabel © Tate, London Purchased using funds provided by the 2004 Outset / Frieze Art Fair Fund to benefit the Tate Collection 2005 Foto: Kay Riechers
Wundern sollten sich Besucher der Hamburger Kunsthalle in den nächsten Monaten auch dann nicht, wenn sie hier und da auf eine sich plötzlich bildende Warteschlange stoßen: Der slowakische Konzeptkünstler Roman Ondák erzeugt mit unangekündigten Performances beim Betrachter Neugier, aber auch das nagende Gefühl, von etwas ausgeschlossen zu sein.
Auch wenn es dem Einzelnen gelingen mag, das Warten hin und wieder als kreative Auszeit zu nutzen – am Ende spiegelt es immer auch gesellschaftliche Machtverhältnisse wider. Eine ernüchternde Erkenntnis von Brigitte Kölle lautet denn auch: „Privilegierte und Menschen mit Macht warten nicht; sie lassen warten.“

: Tobias Zielony (*1973) Lee + Chunk, 2000 Aus der Serie Car Park Fotografie, C-Print, 41,6 x 62,4 cm Courtesy of KOW, Berlin © Tobias Zielony
Auf einen Blick:
Ausstellung: WARTEN. Zwischen Macht und Möglichkeit
Ort: Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart
Zeit: 17. Februar bis 18. Juni 2017. Di-So 10-18 Uhr. Do 10-21 Uhr
Katalog: zu dieser Ausstellung erscheint keine Publikation
Internet: www.hamburger-kunsthalle.de