Imperfekte Texturen statt glatt polierter Oberflächen: Die Städtische Galerie Wolfsburg zeigt jetzt erstmals in einem deutschen Museum eine Einzelausstellung der in New York lebenden koreanischen Fotokünstlerin Jungjin Lee
Die an einer Hauswand angebrachte Uhr zeigt 8:44 Uhr und 34 Sekunden. Aber vielleicht stimmt das auch gar nicht, und sie ist nur irgendwann genau um diese Zeit stehengeblieben. Gestern, vor ein paar Wochen oder auch schon vor einigen Jahren. Im Werk der 1961 in Korea geborenen, heute in New York lebenden Fotokünstlerin Jungjin Lee geht es nicht so sehr um flüchtige Momentaufnahmen und das Einfangen des „entscheidenden Augenblicks“, sondern vielmehr um das Festhalten von überzeitlichen Stimmungen. Lee betreibt eine poetische und metaphorisch aufgeladene Art der Fotografie jenseits aller situativen Aufgeregtheiten der Reportage-fotografie und strengen Dogmen der Konzeptfotografie. Entschleunigung statt Narration.
So auch auf der eingangs erwähnten Schwarz-Weiß-Aufnahme aus ihrer zwischen 2000 und 2001 entstandenen Werkgruppe „On Road“. Ferner zu sehen sind darauf ein paar windschiefe Häuser, Strom- und Telefonmasten, eine regennasse Fahrbahn und einige geparkte Autos. Verschwommen erkennbare asiatische Schriftzeichen deuten darauf hin, dass die Aufnahme in der ursprünglichen Heimat der Künstlerin entstanden ist. Doch auch das ist eigentlich unwichtig. Darauf, dass ihre Bilder spezifischen topografischen Orten zugeordnet werden können, legt Jungjin Lee keinerlei Wert.
Unter dem Titel „ECHO“ widmet die Städtische Galerie Wolfsburg der New Yorkerin jetzt eine ebenso kontemplative wie sehenswerte Ausstellung, die zahlreiche Werke aus der Zeit zwischen 1989 und 2015 umfasst. Die Schau war zuvor im Fotomuseum Winterthur zu sehen. Ob nachträglich mit Wasserfarben eingefärbte Schwarz-Weiß-Aufnahmen von bizarren Felsformationen, schrundigen Erdoberflächen, ausgedorrtem Gestrüpp oder ineinander verschlungenen Kakteen in der Werkgruppe „American Desert“ oder Bilder von Wolken und sturmgepeitschten Bäumen in der Serie „Wind“: Was nahezu all ihren Aufnahmen gemeinsam ist, ist die Abwesenheit des Menschen. Der berühmte schweizerisch-amerikanische Fotograf Robert Frank, als dessen Assistentin Jungjin Lee einige Jahre gearbeitet hat, sprach in Bezug auf ihre zeitlose, mitunter archaisch wirkende Ästhetik von „landscapes without the human beast“, Landschaften also, die von der „Bestie im Menschen“ verschont geblieben sind.
Auf den ersten Blick wirken viele ihrer Abzüge wie Kohlezeichnungen. Scharf konturierte Formen gibt es so gut wie keine. Stattdessen zeichnen sich all ihre Arbeiten durch die sanften Übergänge und die weiche Tonalität der Hell-Dunkel-Kontraste aus. Abgesehen von seiner sehr sensiblen, unspektakulären und eigenständigen Bildsprache, überzeugt Jungjin Lees Werk aber auch durch seine handwerkliche Qualität. Die Materialität des Bildträgers spielt für sie eine mindestens ebenso große Rolle wie die Aufnahme selbst. Statt auf industriell hergestelltes Fotopapier zurückzugreifen, stellt die Künstlerin die Papiere für ihre oft großformatigen Abzüge meist selbst her. In einem aus vielen Arbeitsschritten bestehenden Prozess produziert sie zunächst handgeschöpftes Papier aus den Fasern des Maulbeerbaumes. Anschließend trägt sie mit einem breiten Pinsel eine lichtempfindliche Silbergelatine-Emulsion auf. Jungjin Lee spricht in diesem Zusammenhang vom Liquid-Light-Verfahren. Bis zu zwei Wochen verbringt sie mitunter in der Dunkelkammer, um einen einzigen Abzug herzustellen. Die Künstlerin dazu: „Dieser lange Prozess ist ein wenig wie meditieren. Ich kann nicht vorhersagen, was geschehen und wie das Resultat sein wird. Ich mache einfach immer wieder das Gleiche, ohne mir viel zu erhoffen.“
Diesem von buddhistischer Gelassenheit getragenen Arbeitsprozess ist es auch geschuldet, dass Jungjin Lees Abzüge keineswegs eine hundertprozentige Perfektion ausstrahlen. Doch es sind gerade diese kleinen Fehler, imperfekten Texturen und liebenswürdigen Unvollkommenheiten, die ihre Bilder so unverwechselbar machen. Als „Schönheit voller Narben“ bezeichnet Jungjin Lee, die vor ihrer Hinwendung zur Fotografie eine Ausbildung als Keramikkünstlerin absolviert hatte, das ihrer Arbeit zugrundeliegende ästhetische Konzept. Japaner sprechen von Wabi-Sabi, wenn die Schönheit des vermeintlich Imperfekten gemeint ist. Und Jungjin Lees Landsmann, der koreanische Videokünstler Nam June Paik, brachte diese den Tiefen der ostasiatischen Lebensweisheit entspringende Erkenntnis einst auf die griffige Formel: „Wenn zu perfekt, lieber Gott böse.“
Eine vertrocknete Sonnenblume, die Stelzen eines von unten aufgenommenen Bootsstegs, gekräuselte Wasseroberflächen. Was die Qualität von Jungjin Lees Schwarz-Weiß-Fotografie ausmacht, ist ihre extreme narrative Zurückhaltung. Ihre Bilder handeln von nichts, und sie erzählen von nichts. Und schon gar nicht feiern sie die sterile Perfektion einer von Menschen geformten Umwelt. Dafür aber zeigen sie uns die Essenz der Welt, die uns umgibt: die gebrochene Schönheit des Unvollkommenen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Jungjin Lee – ECHO
Ort: Städtische Galerie Wolfsburg
Zeit: bis 5. Juni 2017. Di 13-20 Uhr. Mi-Fr 10-17 Uhr. Sa 13-18 Uhr. So 11-18 Uhr
Katalog: Spector Books Leipzig 124 S., 8 ausklappbare Doppelseiten, 50 Schwarz-Weiß-Abbildungen und 10 Farbabbildungen, 42 Euro
Internet: www.staedtische-galerie-wolfsburg.de