Der Wiener Aktionist Hermann Nitsch wird häufig auf die spektakulären Aufführungen seines Orgien Mysterien Theaters reduziert. In der arlberg1800 kunsthalle im Arlberg Hospiz Hotel in Tirol kann man jetzt anhand seines umfangreichen grafischen Werks und vieler Schüttbilder einen etwas anderen Nitsch entdecken
„Blut ist ein ganz besonders großartiger, heiliger Saft“, sagt Hermann Nitsch, Jahrgang 1938, und fügt hinzu: „Mein Werk besteht darin, dass ich die Dinge von ihrem Wesen her verwende.“ Der österreichische Totalkünstler hielt am vergangenen Wochenende anlässlich der Eröffnung seiner Ausstellung „Hermann Nitsch. Unter den Bergen“ Hof im Arlberg Hospiz Hotel in St. Christoph in Tirol. Der Titel der Schau in der dortigen arlberg1800 kunsthalle ist der Tatsache geschuldet, dass Nitsch seine Aktionen auf vorbereitenden Papierarbeiten konzipiert, die komplexen Darstellungen unterirdischer Städte und mehrstöckiger Architekturen gleichen. Die im Herbst 2015 eröffnete Kunsthalle geht auf eine Initiative des kunstbegeisterten Hotelbesitzers Florian Werner zurück. Sie liegt zu drei Vierteln ebenfalls unter der Erde, bietet also einen mehr als passenden Rahmen für die 30, teils großformatigen Grafiken und die rund 50 Schüttbilder, die in der Schau präsentiert werden.
Während der mehrstündigen Eröffnung an einem Samstagnachmittag trinkt der gemütlich auf einem Holzstuhl sitzende Barockmensch Nitsch seinen selbstproduzierten, eigens mitgebrachten Weißwein und plaudert angeregt mit seiner Entourage: Bewunderer, Weggefährten, Kuratorinnen, Freunde und Freundinnen. „Macht´s was ihr wollt, aber ein bisschen mit System“, ruft er den angereisten Journalisten zu, bevor er sich dazu bereit erklärt, deren Fragen zu beantworten.
Hermann Nitsch, der letzte Patriarch des Wiener Aktionismus, Maler, Grafiker, Dichter, Komponist und Philosoph, agiert stets im Sinne der Schaffung eines kohärenten Gesamtwerkes. Was auch immer er macht, muss daher als Teil des Orgien Mysterien Theaters verstanden werden, das Nitsch bereits 1957 im Alter von 19 Jahren gedanklich vorkonzipiert hat. 1962 realisierte er dann die „1. Aktion 19.12.1962, Kreuzigung und Beschüttung eines menschlichen Körpers, Wohnung Otto Muehl“. Zahlreiche dieser blutigen, bis zu sechs Tage langen, personalintensiven Aktionen, eine Mischung aus Orgie, Malsession, Prozession, Ekstase, Messe, Gelage und Ritual, hat er bereits veranstaltet, unter anderem auch im Wiener Burgtheater, vor allem aber im niederösterreichischen Prinzendorf, auf seinem weitläufigen Privatgelände mit Schloss. Auch wenn bei diesen Gelegenheiten mit Eingeweiden hantiert und viel Blut vergossen wird: Ein Tier hat Hermann Nitsch noch nie selbst getötet. Die von ihm bevorzugten ganzen Ochsen und das Blut bezieht er ganz regulär von Schlachtbetrieben.
Die 150. und vorerst letzte Aktion fand am 17. Juni 2017 im Rahmen des von dem Privatsammler David Walsh veranstalteten „Dark Mofo Festivals“ in Hobart auf der zu Australien gehörenden Insel Tasmanien statt. Für 2019 plant Nitsch dann wieder ein Spektakel in Prinzendorf.
Die Ausstellung in der arlberg1800 kunsthalle wurde kuratiert von Christine Haupt-Stummer vom Kuratorinnen-Kollektiv „section.a“, das für das inhaltliche Konzept der Kunst im Hotel und in der Kunsthalle verantwortlich ist. In enger Kooperation mit der Nitsch Foundation wird in der Schau vor allem das bislang eher selten gezeigte druckgrafische Werk des Wiener Aktionisten präsentiert. Die zwischen den späten 1970er und frühen 1990er Jahren entstandenen Mappenwerke tragen allesamt den Titel „Die Architektur des Orgien Mysterien Theaters“. Nitsch entwirft hier unterirdische, unendlich verzweigte Höhlensysteme, die teilweise von anatomisch zwar ungenauen, dafür aber fantasievollen Einblicken in den Organapparat des menschlichen Körpers durchzogen werden. Statt Leber, Magen oder Speiseröhre heißen die Organe bei Nitsch „Weihrauchlabor“, „Pilzkeller“ oder „Säurerohr“. Teilweise erinnern die Blätter an mehrschichtige bildgebende Verfahren, wie sie aus der medizinischen Diagnostik bekannt sind. Nitsch experimentiert mit verschiedenen Farben und druckgrafischen Techniken wie Lithografie, Radierung, aber auch Terragrafie, ein Verfahren, bei dem Sand in die Farbe gemischt wird. Hinzu kommen Übermalungen und diverse Schütttechniken. Es ist ein langwieriger Prozess: Nitsch nimmt sich die Blätter manchmal über Jahre immer wieder vor. Er arbeitet an mehreren Zyklen gleichzeitig, fügt etwas mit der Hand hinzu, verwirft, verändert, korrigiert. Die am Arlberg gezeigte Druckgrafik stammt überwiegend aus dem Atelier und ist selbst eingefleischten Nitsch-Kennern nahezu unbekannt.
In der sogenannten „Kathedrale“, einem acht Meter hohen, sakral wirkenden Raum der Kunsthalle, versammelt die Werkschau dann großformatige, mehrteilige Schüttbilder, die bei einer Malaktion im Wiener 20er Haus beziehungsweise für die Weltausstellung in Sevilla 1992 entstanden sind. Hermann Nitsch verwendet für seine Schüttbilder sowohl Blut als auch Farbe. Ob die rote Farbe eine symbolische Bedeutung habe, wird er gefragt. „Es ist genau, wie wenn eine Putzfrau, die auf der Stiege einen Kübel umschüttet“, antwortet Nitsch kokett. „Die macht es unabsichtlich. Ich mache es absichtlich.“ In seine Bilder integriert er auch immer wieder weiße Malhemden, Priestergewändern ähnlich, die Spuren von Farbe und Blut tragen.
Angesprochen auf sein fortgeschrittenes Alter – im nächsten Jahr feiert er seinen 80. Geburtstag – erwidert Hermann Nitsch fast schon philosophisch: „Ich möchte nicht von Vergänglichkeit sprechen sondern vom Fließen. Es gibt keinen Anfang und kein Ende. Es gibt das Ereignis der Schöpfung und die Unendlichkeit.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Hermann Nitsch: Unter den Bergen
Ort: arlberg1800 Kunsthalle, St. Christoph 1, A-6580 St. Anton am Arlberg
Zeit: bis 2. Januar 2018, individuelle Besichtigung der Ausstellung nur nach Terminabsprache mit Hoteldirektor Florian Werner: florian.werner@arlberg1800resort.at
Internet: www.arlberg1800resort.at