Die Fundación MAPFRE in Madrid zeigt jetzt die weltweit bisher größte Retrospektive des amerikanischen Fotografen Nicholas Nixon – seine berühmte Langzeitstudie „The Brown Sisters“ darf da natürlich nicht fehlen
Man kann sie zweifellos als das berühmteste Schwestern-Quartett der Fotografie-Geschichte bezeichnen: Heather, Mimi, Bebe und Laurie, besser bekannt als „The Brown Sisters“. Was sie so berühmt gemacht hat, ist die Tatsache, dass der amerikanische Fotograf und Ehemann der ältesten Schwester Bebe, Nicholas Nixon, Jahrgang 1947, die vier seit 1975 Jahr für Jahr in stets derselben Anordnung fotografiert hat. Von links nach rechts stehen Heather, Mimi, Bebe und Laurie aufgereiht nebeneinander. Ihr Blick ist (fast immer) direkt in die Kamera gerichtet. Mal umarmen sie sich, mal berühren sie sich an den Händen. Konstant bleibt auch der Umstand, dass die Aufnahmen immer draußen und bei verfügbarem Licht erfolgen. Und – ganz wichtig – alle Aufnahmen sind, wie generell bei Nixon, schwarz-weiß. Entscheidend ist auch die Tatsache, dass die Serie so lange wie möglich fortgesetzt werden soll. „Ich möchte damit weitermachen, so lange ich oder mindestens eine von ihnen noch da sind“, so Nixon. „Ich denke, die Serie impliziert dieses Versprechen. Ich weiß, dass meine Frau Bebe mir da zustimmt. Und ich nehme an, dass die anderen nicht darüber reden möchten.“
Mit dieser Serie, die auch in diesem Sommer wieder um ein weiteres Exemplar ergänzt wurde, hat Nicholas Nixon vor 42 Jahren ein künstlerisches Langzeit-Projekt auf den Weg gebracht, das international seinesgleichen sucht. Wohl niemand vor ihm hat das Vergehen der Zeit, das Älterwerden und die menschliche Vergänglichkeit über einen so langen Zeitraum festgehalten. Und das in gleichzeitig unaufgeregten wie eindringlichen Bildern. Im Herbst 2014, die 40. Aufnahme war gerade entstanden, druckte das „New York Times Magazine“ die ganze Serie ab. Die wichtigsten Kunstinstitutionen der Welt, so etwa das New Yorker Museum of Modern Art (MoMA), erhalten Jahr für Jahr ein neues Exemplar, reine Privatsammler werden nicht bedient. Zu den regelmäßigen Beziehern der Serie gehört seit 2009 auch die Fundación MAPFRE in Madrid. Anlass genug für das ambitionierte Ausstellungshaus, dem US-Fotografen seine weltweit bisher größte Retrospektive auszurichten.
Die von Carlos Gollonet kuratierte Schau, die zunächst in Madrid und im Anschluss in Almería, bei C|O Berlin und in Brüssel gezeigt wird, umfasst insgesamt 212 Fotografien aus den Jahren 1974 bis 2017. In chronologischer Reihenfolge auf zwei Etagen präsentiert, vermittelt sie präzise Einblicke in Nixons wichtigste Serien, zeigt Kontinuitäten ebenso auf wie Brüche und Paradigmenwechsel in den Sujets und der Bildsprache des Fotografen.
Den Anfang markieren Aufnahmen, die Nixon noch mit einer Kleinbildkamera während seines Kunststudiums an der University of New Mexico in Albuquerque gemacht hat. Sie zeigen in großer Klarheit und Schärfe die geschwürartig wuchernden Übergangszonen zwischen Stadt und Land. Etwa den verwaisten nächtlichen Parkplatz einer Bank, einen einsam gelegenen Diner oder Motels am Rande der Wüste. Bereits ein Jahr später wurde Nixon eingeladen, diese Aufnahmen in der bis heute legendären Ausstellung „New Topographics: Photographs of a Man-altered Landscape“ im George Eastman House in Rochester, New York zu zeigen. William Jenkins, der Kurator der Schau, hatte neben Nixon auch seine bekannten Kollegen Robert Adams, Stephen Shore und Lewis Baltz eingeladen. Die Schau begründete eine neue und zivilisationskritische fotografische Sicht auf die durch Zersiedlungs- und Modernisierungsprozesse verschandelte Landschaft, insbesondere an den Randzonen der großen amerikanischen Städte.
Gemeinsam mit seiner Frau Bebe zog Nixon nach dem Studium in die Kleinstadt Brookline, die unmittelbar an Boston, Massachusetts grenzt. Dort lebt er bis heute. In seiner neuen Heimat ebenso wie in New York City entstanden zunächst noch Aufnahmen von Skylines, Autobahnkreuzen oder innerstädtischen Baustellen – jeweils von hohen Standpunkten aus aufgenommen, und ohne einzelne Menschen in das Bild zu integrieren. Parallel zum Beginn seiner Serie „The Brown Sisters“ beginnt Nixon, sich jetzt allerdings immer stärker für das menschliche Individuum zu interessieren. Ab 1977 fotografiert er regelmäßig Einzelpersonen, Paare und Gruppen. Menschen am Strand, am Flussufer, im Vorgarten oder auf der Veranda ihres Hauses. Häufig rückt er auch das harmonische Miteinander von weißen und farbigen Amerikanern ganz programmatisch in den Fokus, seien es Paare, Nachbarn oder Kindergruppen. Nixon gelingt es, auf einer einzigen Aufnahme, die Beziehungen zwischen den einzelnen Personen aufscheinen zu lassen. So etwa auf der perfekt durchkomponierten Aufnahme „Hyde Park Avenue, Boston“ aus dem Jahre 1982. Zu sehen sind insgesamt zwölf Personen, alles Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die sich dicht gedrängt auf einer Veranda versammelt haben. Zwischen Fürsorglichkeit, Aggression, Isoliertheit, Traumverlorenheit, Mutter- und Geschwisterliebe und einem innigen Kuss sind alle möglichen Varianten zwischenmenschlicher Interaktion dargestellt. Man sieht vielen dieser Bilder an, dass sie von der Ästhetik eines Henri Cartier-Bresson ebenso beeinflusst sind wie von Vorbildern aus der Geschichte der Malerei.
Im Gegensatz zu dem von ihm bewunderten Franzosen verwendete Nixon jedoch nach Beendigung seines Studiums keine handliche Kleinbildkamera à la Leica mehr sondern 4 x 5- beziehungsweise 8 x 10-Inch-Großformatkameras. Trotz der sperrigen Technik, die immer auch von den Porträtierten ein gewisses Maß an Kooperationsbereitschaft und Konzentration auf den Moment der Aufnahme erfordert, gelingen ihm eindringliche, teils intime Bilder von großer Natürlichkeit.
Befragt nach seinem „Geheimnis“, antwortete Nixon in einem Interview mit Carlos Gollonet so: „Das bin ich selbst. Es gibt da immer diese ungeheure Kraft, die ich in den Leuten sehe – ihre Haltung, ihr Lächeln, ihre Umarmungen – es gibt da eine Art Vertrag zwischen ihnen und mir. Das ist wie bei einer Verführung: Ich lade sie dazu ein, mir gerade so viel von sich zu zeigen wie sie mögen. Auf keinen Fall mehr, aber auch nicht weniger. Das wäre langweilig. Dieser Balanceakt, denke ich, macht die Bilder besonders.“
Nach und nach beginnt Nixon, sein Augenmerk stärker auf Angehörige gesellschaftlich marginalisierter Gruppen zu richten. Aus seiner ehrenamtlichen Tätigkeit in einem Altersheim heraus entsteht eine ganze Serie von Porträtaufnahmen hochbetagter, am Ende ihres Lebens stehender Individuen. Ihre von ihrem gelebten Leben und dem unaufhaltsamen körperlichen Verfall gezeichneten Gesichter zeigt er in Nahaufnahme. Und einmal sind es auch nur die fast bis auf die Knochen abgemagerten Hände, die die Würde eines gelebten Lebens zum Ausdruck bringen. Später folgt eine weitere Serie mit blinden Menschen. Wie immer bei Nixon entsteht keine dieser Aufnahmen, ohne vorher das Einverständnis der Porträtierten eingeholt zu haben.
Gleich zu Beginn der AIDS-Epidemie, als es weithin noch große Berührungsängste gegenüber den Betroffenen gab, beginnt Nicholas Nixon seine Serie „People with AIDS“, für die er 15 Infizierte, darunter auch enge Freunde, mit der Kamera durch ihren Sterbeprozess hindurch begleitete. Vier dieser Serien sind jetzt in der Ausstellung zu sehen. Es sind einfühlsame Porträts, hin- und hergerissen zwischen Verzweiflung und Gefasstheit, Desillusionierung und Verwirrung. Nixon gelingt es, die Krankheit als Krankheit zu zeigen und nicht etwa als „Bestrafung“ für schwule Sexpraktiken, so wie es der damaligen Stimmung im Lande entsprach. Die Ausstellung dieser Bilder im New Yorker MoMA jedenfalls löste heftige Debatten aus.
Seine Vorliebe für serielles Arbeiten begründet er so: „In Serien zu arbeiten, fordert mich heraus, und es gibt mir die Möglichkeit, gegen Ende immer besser zu werden, das, was ich mache, ständig zu perfektionieren, es voranzutreiben, zu revidieren, es mit größerer Einsicht und mehr Mut anzugehen.“
Im Anschluss an den AIDS-Zyklus sind in der Madrider Schau wesentlich weniger aufwühlende Aufnahmen aus Nixons Akt-Serie „Lovers“ zu sehen. Nixon porträtiert hier Paare, die er zuvor über Anzeigen gesucht hat, in intimen Momenten. Diese Serie bildet die ganze Bandbreite der Gesellschaft ab: Angehörige unterschiedlicher Ethnien, Hetero- und Homosexuelle, junge und alte Paare treffen auf diesen sehr ausbalancierten Bildern aufeinander.
Eine Art fortlaufende Serie bilden auch die Aufnahmen seiner Kinder, beginnend mit der Geburt seines Sohnes Sam im Jahr 1983. In der Folgezeit wird Nixon Sam und dessen 1985 geborene Schwester Clementine immer wieder fotografieren – meistens nackt und oft mit einem Fokus auf Hautoberflächen, kleine Narben, Sommersprossen oder andere Unregelmäßigkeiten. Ein ähnliches Interesse liegt auch der fortlaufenden Serie „Bebe & I“ zugrunde, in welcher Nixon sich und seine Frau zeigt. In „Self“ wiederum tritt ab circa 2008 Nixons neu erwachtes Interesse am Selbstporträt zu Tage: In teils extremen Close-ups fotografiert er hier seine Augen, seine Halspartie, Barthaare oder auch den Stoff seines Oberhemds.
Gerade in den letzten fünf bis zehn Jahren sind Nicholas Nixons Sujets vielfältiger denn je geworden. Es entstehen Detailaufnahmen von der Holzfassade seines Hauses, er fotografiert das Herbstlaub auf seiner Veranda, den Faltenwurf des Schlafzimmervorhangs, die wogenden Ähren eines Weizenfeldes in Frankreich, die gegerbte und zerklüftete Haut von Sonnenanbetern am Revere Beach, dem Stadtstrand von Boston, aber auch wieder Menschen in den letzten Wochen und Tage ihres Lebens, die diese auf der Palliativstation einer Bostoner Klinik verbringen.
Seit rund zehn Jahren widmet sich Nixon aber auch wieder den „City Views“, die bereits am Anfang seiner Karriere Mitte der 1970er Jahre standen. In extrem klaren, äußerst detailreichen Aufnahmen, die an die in den 1930er Jahren entstandenen New-York-Aufnahmen von Berenice Abbott ebenso erinnern wie an Werke der Düsseldorfer Becher-Schule, verdichtet er Bauten aus der Bostoner Kolonialzeit, alte Kirchen, Wolkenkratzer aus der Mitte des 20. Jahrhunderts, im Abbruch befindliche und ganz neue Gebäude zu einem vielfach geschichteten architektonischen All-Over voller grafischer Strukturen, Spiegelungen und Brüche.
Nicholas Nixon betreibt eine Fotografie der Langsamkeit. Er verzichtet auf dramatische Effekte. Jeglicher Hang zum Sensationalismus ist seiner ruhigen, präzisen und unaufgeregten Bildsprache fremd. Sichtbares und Verborgenes halten sich auf seinen Aufnahmen die Waage. Was zählt, ist nicht nur das vordergründig Erkennbare sondern auch die verborgenen Geschichten hinter den Bildern.
Liebe, Leidenschaft, Vertrauen, Körperbewusstsein, Intimität, Sexualität, Schmerz, Leid, Altern, Verlustangst, Einsamkeit und Todesnähe: Auf Nicholas Nixons Aufnahmen wird vom Baby- bis zum Greisenalter keine menschliche Lebensphase ausgelassen. Was besonders in den letzten Jahren auffällt, ist Nixons gesteigertes Interesse an Oberflächen, seien es nun die von menschlichen Körpern, Rasenflächen, Textilien oder Hochhausfassaden. Er sagt: „Ganz nah ranzugehen, ist mit die beste Methode, um eine sinnliche Qualität der Wahrnehmung herzustellen. Die Oberfläche bekommt plötzlich etwas Überraschendes und eine gewisse Dynamik. Vielleicht kann man es mit einem Kuss vergleichen. Der kann ja auch besser sein als eine Unterhaltung.“
Auf einen Blick:
Ausstellung: Nicholas Nixon – Retrospektive
Ort: Fundación MAPFRE, Bárbara de Braganza Exhibition Hall, Madrid
Zeit: bis 7. Januar 2018. Mo 14-20 Uhr. Di-Sa 10-20 Uhr. So/Feiertage 11-19
Montags freier Eintritt
Katalog: Fundación MAPFRE/Kehrer Verlag, 288 S., ca. 200 S/W-Abb., spanische/englische Ausgabe 39,90 Euro, deutsche Ausgabe in Vorbereitung, ca. 45 Euro
Internet: www.fundacionmapfre.org/fundacion/en/
Weitere Stationen: Centro Andaluz de la Fotografia, Almería, Februar bis April 2018, C|O Berlin, September bis Dezember 2018, Fondation A Stichting, Brüssel, Januar bis April 2019