Ein beachtenswertes Werk voller Widerborstigkeit, Brüchen und Neuanfängen: Die Hamburger Kunsthalle zeigt die bisher größte Ausstellung des 2009 verstorbenen Künstlers Philippe Vandenberg außerhalb seines Heimatlandes Belgien
Der Titel dieser Ausstellung kann als das Lebensmotto des Künstlers gelesen werden. Der Belgier Philippe Vandenberg (1952-2009) verwendete den japanischen Begriff „Kamikaze“ nicht nur auf einigen seiner Gemälde und Zeichnungen. Der Terminus „Kamikaze“ (auf Deutsch: „göttlicher Wind“) wird gemeinhin mit der selbst-mörderischen Luftangriffstechnik der japanischen Armee während des Zweiten Weltkriegs assoziiert. Jenseits dieser vielleicht etwas verengten Lesart, steht das Kamikaze-Prinzip aber auch für die völlige Zerstörung des Alten, um einen Richtungswechsel herbeizuführen.
Die Idee vom immer wieder notwendigen, kompletten Neuanfang durchzieht das gesamte Œuvre des in Deutschland bisher wenig bekannten flämischen Künstlers Philippe Vandenberg. In der Galerie der Gegenwart der Hamburger Kunsthalle ist jetzt sein vielschichtiges, kompromissloses Werk in einer großen Einzelausstellung zu entdecken. Kuratorin Brigitte Kölle hat in enger Zusammenarbeit mit den drei Kindern des Künstlers, die seinen Nachlass zusammen mit der Zürcher Galerie Hauser & Wirth betreuen, diese außerhalb Belgiens bisher größte Werkschau des 2009 verstorbenen, eher Insidern bekannten Künstlers entwickelt.
Rund 80 Gemälde und 120 Zeichnungen und Druckgrafiken umfasst die sehenswerte Werkschau. Gleich im ersten Raum stößt der Betrachter auf das alles beherrschende Thema der menschlichen Gewalt, das Vandenbergs Kunst prägt. 36 großformatige Zeichnungen sind wie ein Flickenteppich auf dem Boden arrangiert. Auf ihnen sind in leicht ungelenker Schrift in verschiedenen Sprachen und Farbtönen Textbotschaften zu entziffern. „Kill them all and we shall dance“ steht da beispielsweise zu lesen, eine wütend-ironische Aufforderung, die hergeleitet ist aus Vandenbergs Erfahrung politischer Demonstrationen in den 1980er Jahren, als die Fatwa gegen Salman Rushdie, den Verfasser der „Satanischen Verse“, ausgesprochen wurde.
Die Bildsprache Philippe Vandenbergs bewegt sich zwischen Figuration und Abstraktion. In seinem Atelier im Brüsseler Stadtteil Molenbeek hat er in langwierigen Malprozessen seine Leinwände bearbeitet. Teils über viele Jahre hinweg legte er Schicht für Schicht übereinander. Um dann wiederum Teile des fertig Gemalten zu zerstören, kratzte er mit dem Rakel die Farbe von der Leinwand, bis diese nahezu durchlöchert war: ein quälerischer Prozess. Brigitte Kölle dazu: „Er hat immer wieder die Farbe abgeschabt, so dass die Leinwand teilweise wirkt wie verletzte menschliche Haut.“
Die Themen, die seine Bildwelten durchziehen, sind provokant und verstörend: religiös geprägter Fanatismus, Inzest, Tod, Gewalt, Terrorismus und Grausamkeit. Es waren die dunklen Kehrseiten des menschlichen Handelns, die ihn interessierten. Brigitte Kölle dazu: „Was wir als Conditio humana bezeichnen, macht seine Kunst aus.“ Für das 73-teilige Ensemble „Der Geist ist ein Reisender, die Seele ist ein Vagabund“ (1994-1997) malte er unter anderem mit seinem eigenen Blut.
Auf dem großformatigen Gemälde „Zu lieben heißt zu geißeln I“ (1981-1998) sieht man vor einer majestätischen Bergkulisse drei sich auspeitschende, schwarze Figuren, die mit ihren schwarzen Spitzmützen an mittelalterliche Flagellanten ebenso erinnern wie an Mitglieder des Ku-Klux-Klans. Sie bewegen sich in einer apokalyptischen Landschaft auf einen von zwei Löwen bewachten Höllenschlund zu. Über ihnen schwebt das Auge Gottes, ein stiller Mönch beobachtet die schauerliche Szenerie. Verschiedene Schriftzüge kommentieren die rätselhafte Darstellung und weisen auf den Kampf zwischen Gut und Böse hin. Chinesische Landschaftsmalerei wird hier ebenso zitiert wie die mythenschweren Tableaus eines Anselm Kiefer.
Die Religion und der Glaube prägten Philippe Vandenberg zeitlebens. Stark verwurzelt im Katholizismus, aber auch inspiriert von kunsthistorisch wichtigen Figuren wie El Greco oder Goya, malte und zeichnete er von Kindheit an unablässig, oftmals wie im Rausch. Eine schwere Depression verbunden mit Selbstzweifeln und Zerstörungsanfällen lähmte ihn über weite Strecken seines Lebens. Andererseits entsprangen aus der quälenden Schwermut aber auch geniale Bildeinfälle.
Die Hamburger Ausstellung legt auch einen Schwerpunkt auf Philippe Vandenbergs zeichnerisches Werk. Darstellungen von Tieren und menschlichen Körperteilen fügen sich zu teils spielerischen Kompositionen zusammen. Es gibt aber auch bestialische, blutrünstige Szenen wie etwa die Schlachtung eines Hundes mit der Axt, während weitere Hunde treu dreinblickend daneben sitzen. Andere Arbeiten in der Schau wie übermalte Zeitungsausschnitte oder auch Porträtserien von umstrittenen Figuren wie Antonin Artaud und Ulrike Meinhof zeigen auch die politische Seite des belgischen Malers.
Das letzte Bild der teilweise unter die Haut gehenden Schau trägt den Titel „Der Schlaf“ (2003). Bis auf wenige kreisrunde Aussparungen ist es weiß übermalt. Zu erkennen ist jedoch eine Figur, die sich durch einen Gewehrschuss in den Kopf selbst getötet hat. Eine Vorwegnahme des eigenen Schicksals? Auch Philippe Vandenberg setzte seinem Leben mit nur 57 Jahren ein Ende. Sein facettenreiches und emotional aufwühlendes Werk gilt es jetzt in der Hamburger Kunsthalle neu zu entdecken und zu bewerten.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Philippe Vandenberg: Kamikaze
Ort: Hamburger Kunsthalle, Galerie der Gegenwart, Sockelgeschoss
Zeit: bis 24. Februar 2019, Di–So 10–18 Uhr, Do 10–21 Uhr. 24.12. geschlossen. 25.12. 12–18 Uhr, 26.12. 10–18 Uhr, 31.12. 10–15 Uhr, 1.1. 12-18 Uhr
Katalog: Koenig Books, London, dt./engl./frz., 272 S., ca. 100 Abb., 29 Euro (Museum), 39,80 Euro (Buchhandel)
Internet: www.hamburger-kunsthalle.de