Die städteübergreifende Ausstellung „Ruhr Ding“ in Bochum, Dortmund, Essen und Oberhausen bringt gesellschaftskritische und poetische Kunst in Rathäuser, leerstehende Ladenlokale, ehemalige Kinos, auf alte Zechen und Industriebrachen, an Fassaden, auf Fussballplätze und viele andere urbane und semi-urbane Orte
Ortstermin in der Knappenstraße 141a in Oberhausen. Der Ascheplatz und das Vereinsheim des Fußballclubs SC 1920 wirken bereits arg in die Jahre gekommen. In wenigen Wochen geht hier endgültig das Licht aus. Ein Jahr vor dem 100. Jubiläum muss der Verein wegziehen. Der Sportentwicklungsplan der Stadt Oberhausen sieht das so vor. Doch zuvor erfährt dieser Ort in einer der zahllosen „Niemandsbuchten“ des Ruhrgebiets noch einmal große Aufmerksamkeit. Der kumpelhaft auftretende schottische Künstler Roderick, kurz „Roddy“, Buchanan hat mit den Vereinsmitgliedern schnell Freundschaft geschlossen. Acht Wochen lang wird er hier jeden Donnerstagabend ein ungewöhnliches Fußballmatch inszenieren. Im Rahmen seines Projekts „The Hexagon Pitch“ lässt der 54-jährige Glasgower jeweils drei Teams auf drei Tore schießen. Erdacht hat sich das anarchische Konzept einst der dänische Künstler und Situationist Asger Jorn. Er wollte damit die Bipolarität des konventionellen Fußballspiels entlarven, die für ihn die kapitalistische Gesellschaftsordnung symbolisierte.
Ganz so bierernst geht Buchanan die Sache jedoch nicht an. Für ihn, der im frisch gebügelten Schottenrock mit dem traditionellen Tartan seines uralten Clans angereist ist, geht es vielmehr darum, verschiedene Communities auf spielerische Art und Weise zusammenzubringen. „Es gibt nur eine Sache, die mir mehr Freude macht als Kunst: Beim Fußball einen richtig schönen Pass zu schießen“, so Buchanan, der im Vereinsheim zusätzlich noch Neonarbeiten, Videos und Fotoserien präsentiert.
„The Hexagon Pitch“ ist nur eines von insgesamt 22 künstlerischen Projekten, die noch bis Ende Juni im öffentlichen und halböffentlichen Raum der Städte Bochum, Dortmund, Essen und Oberhausen besichtigt und erlebt werden können. Das innovative Ausstellungsformat „Ruhr Ding“ feiert mit dieser Ausgabe Premiere. Bis mindestens 2022 findet es jährlich statt. „Ruhr Ding“ ist kostenlos und bringt künstlerische Interventionen an Orte, wo man diese normalerweise nicht erwarten würde: auf Fussballplätze, in Rathäuser, Luxushotels, leerstehende Ladenlokale, ehemalige Kinos, auf alte Zechen und Industriebrachen, an Fassaden, auf Hochhausdächer und viele andere urbane und semi-urbane Orte. Kuratiert wird das „Ruhr Ding“ von der ursprünglich aus Hamburg stammenden Kulturwissenschaftlerin Britta Peters, die 2017 gemeinsam mit Kasper König und Marianne Wagner auch zum Dreierteam der Skulptur Projekte Münster gehörte. Seit Januar 2018 ist sie Künstlerische Leiterin von Urbane Künste Ruhr, der 2012 gegründeten dezentralen Institution für Gegenwartskunst im Ruhrgebiet.
Peters bringt ihr Ausstellungskonzept auf ebenso kurze wie griffige Formeln. Kunst betrachtet sie als „Wahrnehmungsverstärker“ für das Gegenwärtige, die Brüche und Konfliktzonen unserer gesellschaftlichen Realität. Mit den Projekten der Ausstellung „Ruhr Ding“ wolle sie „Aufmerksamkeit für das Dazwischen“ erzeugen. Der Begriff „Territorien“ dient für die diesjährige Ausgabe als thematische Klammer. Britta Peters betont denn auch die dezidiert gesellschaftspolitische Stoßrichtung von „Ruhr Ding“: „Der Geist des Projekts speist sich aus einer klaren Haltung gegen Egozentrik, Populismus, Faschismus und reflektiert Mechanismen, die gegenwärtig überall auf der Welt rechtsextreme Positionen begünstigen. Dem Wunsch nach nationaler Abschottung setzen wir Offenheit, Empathie und Solidarität entgegen.“ Ein hoher Anspruch, den die vielgestaltige Großausstellung aber tatsächlich einlöst.
Da ist zum Beispiel das Projekt „Tag X“ der 1984 in Zwickau geborenen Berliner Künstlerin Henrike Naumann, deren subtil politisch aufgeladene Arbeiten die Wochenzeitung „Die Zeit“ einmal als „Psychogramme der deutschen Seele“ charakterisierte. In einem ehemaligen Ladenlokal am Dortmunder Friedensplatz präsentiert Naumann im postmodernen Ambiente eines Optikerladens der 1990er Jahre eine aus selbst gedrehtem und dem Internet entnommenem Bildmaterial montierte Videoarbeit, die sich mit der sogenannten Prepper-Szene auseinandersetzt. Prepper bereiten sich auf den „Tag X“, den Zeitpunkt ihrer Machtübernahme, vor. Neben Lebensmittelvorräten horten sie auch Waffen und Kampfausrüstung. Die Übergänge zu konspirativen rechtsextremen Netzwerken auch innerhalb von Polizei und Bundeswehr sind dabei fließend, wie die Aufdeckung des Hauptfeldwebels André S. alias „Hannibal“ Ende 2018 gezeigt hat.
Im Schaufenster, in Vitrinen und auf Verkaufstresen: Überall im Laden hat Naumann Wohnaccessoires im Stil der italienischen Prestige-Marke Alessi zu ästhetischen Ensembles verdichtet. Doch der schöne Schein des durchgestylten Ambientes trügt: Bei Henrike Naumann werden selbst vom mittelständischen Geschmacksbürgertum geschätzte Designklassiker wie Philippe Starcks berühmte Zitruspresse „Juicy Salif“ zu Hieb- und Stichwaffen im Kampf der Ideologien. Auch der Ort ist nicht zufällig gewählt: Jeden Donnerstag treffen sich auf dem Friedensplatz Reichsbürger, Verschwörungstheoretiker und andere Rechtsextreme zu Demos und Mahnwachen – Konfrontationen sind da nicht ausgeschlossen. So zum Beispiel am nächsten Donnerstag, wenn Naumann zur Performance mit Johannes Büttner einlädt.
Ganz anders die Arbeiten des Berliner Zeichners Stefan Marx, Jahrgang 1979. Marx hat in einer Bochumer Großsiedlung eine ganze Brandwand mit einer Liedzeile aus Woody Guthries Song „The Dying Miner“ bemalt. „I love you lots more than you know“: Die letzten Worte an seine Familie, die ein erstickender Bergmann in den Kohlestaub ritzt, mutieren bei Marx zum ambivalenten Signet. Melancholie und Tod, Romantik und Liebeserklärung gehen da Hand in Hand. Weitere Fassadenmalereien hat Marx auch in Dortmund und Essen realisiert.
Ob Sam Hopkins‘ fiktionale Zivilisationsflüchterin alias „Die Dauercamperin“ in Dortmund, Suse Webers sich über die gesamte Laufzeit entwickelnde Dauerperformance „Betonoper: Die Taube“ in Bochum, Ivan Moudovs klingender „Bulgarischer Biennale Pavillon“, der sich nicht etwa in Venedig sondern in einer ehemaligen Trauerhalle in Bochum befindet, oder die wummernde Soundarbeit „Composition“ von Louis Henderson & João Polido auf dem alten Opelgelände in Bochum: Alle diese Arbeiten verdienen aufgrund ihrer rechercheintensiven Annäherung an die spezifischen Orte und Gegebenheiten des Ruhrgebiets und ihrer ebenso präzisen wie professionellen Umsetzung ein Publikum, das genau hinschaut und sich mit den Hintergründen und den Entstehungsgeschichten der Werke auseinander setzt.
Die Veranstalter bieten im Rahmen der sogenannten „Irrlichter-Touren“, die mit dem Fahrrad oder öffentlichen Verkehrsmitteln durchgeführt werden, ein umfangreiches Vermittlungsprogramm an.
Als eine Art Festivalzentrum dient übrigens das Colloseum Westpark in Bochum. Hier hat die in Hamburg beheimatete „Hanseatische Materialverwaltung on Tour“ ihr temporäres Quartier aufgeschlagen. Ausgebreitet in mehreren Seecontainern, können hier ehemalige Film- und Theaterrequisiten besichtigt, ausgeliehen und erworben werden.
Überaus spannend ist auch die Arbeit „Mein Name ist Sprache“, die die niederländische Künstlerin Nicoline van Harskamp, Jahrgang 1975, ursprünglich für das Festival Steirischer Herbst 2018 in Graz entwickelt hatte. Für Oberhausen wurde sie jetzt adaptiert und erweitert. Van Harskamp hat in Gesprächen mit Migranten und Sprachforschern Geschichten über Namen und deren Veränderung und Manipulation durch Behörden, Unternehmen und andere Institutionen gesammelt. Auf Videomonitoren, die sie im Wartesaal des Einwohnermeldeamts im Oberhausener Rathaus installiert hat, ist jetzt ein bunter Mix von Schauspielern und tatsächlich Betroffenen zu sehen, die diese teils abstrusen Geschichten erzählen.
Einen beeindruckenden Kurzfilm, in welchem sie alle Rollen selbst spielt, präsentiert dagegen die belgische Künstlerin Ariane Loze, Jahrgang 1988, im ehemaligen Kino Europapalast in Oberhausen. Der riesige, nahezu leere Kinosaal, der seit 1985 ungenutzt ist, ist sowohl Produktions- als auch Aufführungsort ihrer Arbeit „Nein Weil Wir“. Die dunkelrote Wandfarbe und die zahlreichen Logen mit metallener Reling verleihen diesem verwunschenen Ort eine ganz besondere Aura zwischen expressionistischer Architektur à la „Metropolis“ und Untergangsstimmung auf der Titanic.
Porträt Ariane Loze, Foto: Heiko Klaas
Loze schlüpft in ganz unterschiedliche Frauenrollen. Von der Intellektuellen über die Revoluzzerin bis zur knallharten Investmentbankerin. Diesen legt sie Textfragmente von Danton, Walter Benjamin, Sigmund Freud, Mao Tse Tung und vielen anderen in den Mund, und lässt sie im dialogischen Mit- und Gegeneinander über Revolution, Anpassung und Zementierung der Verhältnisse philosophieren. Das Ganze wird von Möwengeschrei atmosphärisch unterlegt. Inszenatorisch eingerahmt wird die Filmhandlung von einer Funkaufzeichnung der italienischen Küstenwache. Zu hören ist ein Dialog zwischen Francesco Schettino, dem Kapitän des 2012 havarierten Kreuzfahrtschiffes Costa Concordia, und dem Kommandanten der italienischen Küstenwache, in welchem Schettino sich standhaft weigert, wieder an Bord zu gehen und die Rettungsmaßnahmen zu koordinieren. Ein Musterbeispiel für egozentrische Drückebergerei und Verantwortungslosigkeit.
Eine interaktive Videoinstallation mit dem Titel „Nøtel“, die sich spielerisch-ironisch mit dem Einzug Künstlicher Intelligenz in die Arbeits- und Freizeitwelt auseinandersetzt, präsentiert der Londoner Lawrence Lek, Jahrgang 1982, in einem stark frequentierten Fußgängertunnel unterhalb des Essener Büro- und Hotelkomplexes Ruhrturm.
Virtuell geht es auch bei Alexandra Pirici zu. Unter der Decke hängen Hunderte Drahtkörbe, in denen die Bergleute früher ihre Alltagskleidung aufbewahrten. In der ehemaligen Waschkaue, dem gigantischen Umkleide- und Duschraum der Kokerei Hansa in Dortmund, lässt die rumänische Performancekünstlerin und Choreografin eine Tänzerin aus Fleisch und Blut mit ihrem männlichen Counterpart in Form eines lebensgroßen Hologramms interagieren. Das tänzerisch-poetische Spiel mit der An- und Abwesenheit von Körpern lässt gerade diesen seit 1992 stillgelegten Ort zum beeindruckenden Resonanzraum von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft des Ruhrgebiets werden.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Ruhr Ding: Territorien
Ort: 22 künstlerische Produktionen im öffentlichen und halböffentlichen Raum an unterschiedlichen Standorten in den Städten Bochum, Dortmund, Essen und Oberhausen
Zeit: 4.4. – 30.6.2019. Di/Mi/Do 11-18 Uhr. Do/Fr/Sa 11-20 Uhr. Mo geschlossen. Teilweise abweichende Öffnungszeiten. Bitte Website beachten
Katalog: kostenloser Kurzführer mit 168 S., zahlreiche Abb., liegt an allen Standorten aus
Veranstaltungen: Performances, Künstlergespräche, Vorträge, etc. während der gesamten Laufzeit. Programm siehe Website
Internet: www.urbanekuensteruhr.de