Olaf und Anton Stüber haben jetzt das „Videoart at Midnight Künstlerkochbuch“ herausgegeben. Eine kulinarische Entdeckungsreise mit vielen persönlichen Geschichten
Mit den Künstlern Sven Johne und Bjørn Melhus fing es 2008 an. Damals startete der erste Abend der Reihe „Videoart at Midnight“ im Kino Babylon in Berlin-Mitte. Mittlerweile ist diese von dem Videoexperten Olaf Stüber und dem Kunstsammler Ivo Wessel gestartete Reihe bei ihrer 114. Ausgabe angekommen und zu einer Kultveranstaltung für die Berliner Kunstszene avanciert. Einmal im Monat, immer an einem Freitag um Mitternacht, wird ins Kino Babylon eingeladen, und zwar bei freiem Eintritt. Die Fangemeinde ist rasch gewachsen, selbst die großen Player unter den Berliner Galeristen betrachten das Format wohlwollend und mit Respekt. Jeweils eine künstlerische Position wird bei Videoart at Midnight präsentiert. Die KünstlerInnen werden von den beiden Gastgebern in einer kurzen Einführung vorgestellt. Die Reihe konzentriert sich auf Künstler, die entweder dauerhaft in Berlin leben oder einen engen Bezug zu der Stadt haben. Auf eine anschließende Diskussion wird bewusst verzichtet, denn „nicht alles sei erklärbar“, findet Olaf Stüber.
Die beliebten Präsentationen zu später Stunde im Kino Babylon umfassen Filme, Videos, Live Acts und Performances. Manchmal bringen die Künstler auch befreundete Musiker mit in den Kinosaal, die ihre Präsentation begleiten. Viele der Künstler wurden bereits bei Videoart at Midnight vorgestellt, bevor der große Durchbruch, etwa auf der Biennale Venedig oder auf der Documenta kam. Zu den Videoabenden kommt – typisch Berlin – ein junges, internationales Publikum, das Kennerschaft und ein echtes Interesse mitbringt. Der in Esslingen geborene Schwabe Olaf Stüber ist schon lange im Berliner Kunstbetrieb aktiv. Von 2001 bis 2011 hat er die Galerie Olaf Stüber in Mitte betrieben. Dort konzentrierte er sich bereits seit 2003 auf bewegte Bilder.
Nun ist also das Videoart at Midnight Künstlerkochbuch erschienen. Keine der üblichen Rezeptsammlungen zu einem beliebigen Thema, sondern ein sehr persönlich gehaltenes Kochbuch einer internationalen Kunst-Community, die zusammen feiert, diskutiert und gemeinsam durch die Höhen und Tiefen des Kunstbetriebs geht. Auf angenehm mattem Papier gedruckt, fallen sofort die mit großer Liebe zum Detail inszenierten Fotos der verschiedenen Gerichte ins Auge. Die meisten Aufnahmen stammen von Anton Stüber, dem 1999 geborenen Sohn Olaf Stübers, der seit 2017 in Berlin Fotografie studiert.
Gemeinsam mit seinem Sohn Anton hat Olaf Stüber auch sämtliche Rezepte selbst nachgekocht. Damit auch alles authentisch schmeckte, haben die beiden die benötigten Zutaten auf diversen Wochenmärkten, in Bioläden, koscheren Shops und Asia-Supermärkten zusammengekauft. Selbst das Geschirr, die Kochutensilien und die jeweiligen Tischuntergründe und Dekorationen sind den einzelnen Rezepten und der Herkunft ihrer Urheber angepasst worden. So wurde zum Beispiel auf Flohmärkten das passende Koch-Equipment gekauft. Dekorative Stoffe wurden aus Barcelona und fotogene Töpfe aus Marokko mitgebracht.
Oft haben Olaf Stüber und sein Sohn die vorgestellten Speisen auch zusammen mit den Künstlerinnen und Künstlern gekocht oder andere Gäste zum gemeinsamen Mahl eingeladen. Auch diese Abende sind in dem Buch teilweise dokumentiert, wobei die Autoren hier ganz auf Schwarz-Weiß-Fotografien setzen.
Warum dieses Buch? Kunst bezeichnet Olaf Stüber als „Grundnahrungsmittel des Lebens“. Doch für den erfahrenen Kurator gehen Kunst und Kulinarik beim geselligen Beisammensein mit Künstlern, Sammlern und Freunden ganz selbstverständlich Hand in Hand. „Bei vielen dieser Begegnungen spielte das gemeinsame Essen eine zentrale Rolle: Schon immer koche ich leidenschaftlich zu Hause für Familie und Freunde. Viele neue Ideen und Projekte haben sich daraus entwickelt. Auch in meiner Galerie, die ich für einige Jahre in Berlin hatte, habe ich gekocht, oft gemeinsam mit Künstlerinnen und Künstlern. Bis in die frühen Morgenstunden tafelten wir, die Tische bogen sich, und manchmal hat ein Sammler noch zu später Stunde etwas gekauft“, so Olaf Stüber.
Das ebenso unkonventionelle wie praxistaugliche Kochbuch ist gegliedert in die Kapitel Vegetarisch, Geflügel, Fisch, Fleisch, Süßes, Drinks. Besonders lesenswert sind die vielen kleinen Geschichten und persönlichen Erinnerungen, die die KünstlerInnen ihren Rezepten voranstellen. So erinnert sich etwa Stefan Panhans an seine Sommerferienaufenthalte bei verwandten Bauern in Süddeutschland. „Und war man mit den Bauern auf dem Feld, wurde manchmal das »Veschper« auch dahin gebracht, und wenn man Glück hatte, war es eben dieser Salzkuchen und vergorener Apfelmost dazu – absolute Spitzenklasse!“ Der Salzkuchen à la Panhans besteht aus einem einfachen Hefeteig, der mit saurer Sahne, Eigelb und wahlweise Kümmel oder Schnittlauch im Ofen gebacken wird. Dazu empfiehlt der Künstler einen Feldsalat mit Kernöldressing und für Weinfreunde einen Trollinger oder Lemberger Rotwein.
Das schwedische Künstlerpaar Mats Bigert und Lars Bergström liefert nicht etwa ein landestypisches Kötbullar-Rezept ab, sondern überrascht mit einer wohldurchdachten „Pizza Bianca Porcini“ (Steinpilzpizza), wie man sie sich auch in der Toskana nicht authentischer vorstellen könnte.
Auf gleich acht Seiten präsentiert der Schotte Douglas Gordon, dessen tätowierte Hände übrigens auch auf dem Buchcover beim Zwiebelschneiden zu sehen sind, sein eher kryptisches Rezept für „Cullen Skink“ mit vielen Fotos und wenig Text. Der für Nichtschotten wahrscheinlich eher gewöhnungsbedürftige Fischeintopf besteht unter anderem aus Räucherfisch, Knoblauch, Zwiebeln, Milch und Kartoffeln.
Die finnisch-israelische Künstlerin Dafna Maimon steuert ein äußerst appetitanregendes Shakshuka-Rezept bei. Das israelische Nationalgericht bereitet sie stilecht mit Eiern, Chili, Kreuzkümmel, Paprika, Zwiebeln und Tomaten zu. „Shakshuka ist für mich Heimat, Familie, nah und fern, hier, da, in Finnland und Israel. Es ist Frühstück und Geborgenheit, es ist Herausforderung und Verlangen.“ Besonderen Wert legt sie dabei auf die Herkunft der Eier: „Die Eier sollten idealerweise von einem Huhn stammen, das man liebt oder kennt, und das ein anständiges Leben hat.“ In Berlin-Mitte oder Kreuzberg wahrscheinlich kein leichtes Unterfangen. Zur Not, so Dafna Maimon, dürften die Eier aber auch im Bioladen des Vertrauens erstanden werden.
Bei den süßen Sachen brilliert Melissa Logan, eines der Gründungsmitglieder des Performance-Kollektivs „Chicks on Speed“, mit ihrem „Haselnuss-Soufflé nach Art der L’Hostellerie Bressane“. In dem leider nicht mehr existierenden französischen Restaurant in einer ehemaligen Kutschenstation aus dem Jahr 1783 an der Kreuzung zweier Highways im Bundesstaat New York hat Melissa Logan als Schülerin im Service gejobbt.
So ist einfach für jeden etwas dabei: Ob Safy Snipers „Hello Kitty-Suppe“ aus roter Beete, Süßkartoffeln und Knollensellerie, Vibeke Tandbergs gehaltvolles „Confit de canard“, Anja Kirschners sommerlich-leichte „Marinierte Sardellen“ mit Zitrone, Olivenöl und grobem Meersalz, Klaus vom Bruchs „Rehfilet“ mit marokkanischen Gewürzen, Delia Gonzalez’ amerikanischer „Kürbiskuchen“ mit Walnüssen und Rosinen oder aus der Getränkeabteilung Willem de Rooijs ausgesprochener Männercocktail „Bullshot“, eine Bloody-Mary-Variante, bei der der Tomatensaft durch eine kräftige Rinderconsommé ersetzt wird – in diesem wahrhaft kosmopolitischen Kochbuch wird also niemand diskriminiert oder ausgegrenzt, vom eingefleischten Veganer bis zum überzeugten Fleischaficionado, von der Hausmannskost über fangfrisches „Sashimi in der Tokyo Bay“ bis zur großbürgerlichen Festtagsküche kommen alle kulinarischen Vorlieben zum Zuge. Also nichts wie ran an den Herd!
Auf einen Blick:
Das Videoart at Midnight Künstlerkochbuch, 80 Künstler|80 Rezepte, 256 S., 247 farbige und 48 s/w Abb., Kerber Verlag, 39,80 Euro