Die Art Brussels meldet sich nach zwei Jahren Corona-Unterbrechung fulminant zurück – sie findet jedoch leider zum letzten Mal am zentrumsnahen Standort Tour & Taxis statt
Zwei Jahre hat die Art Brussels wegen der Corona-Pandemie als Präsenzveranstaltung pausieren müssen. Jetzt ist die Messe in alter Frische zurück, leider aber zum letzten Mal am mittlerweile etablierten Standort unweit vom Brüsseler Stadtzentrum. Am Vernissagetag strömten die Besucher und Sammler zuhauf in die historischen Tour & Taxis-Hallen am Kanal. Doch damit ist im nächsten Jahr Schluss. Das vor wenigen Jahren in Teilen noch sympathisch improvisiert wirkende, teils brachliegende Gelände ist mittlerweile so weit überplant und durchgentrifiziert worden, dass man die Messe dort nicht mehr will beziehungsweise braucht. Daher wird die Art Brussels an ihren alten Standort, das Expogelände im Schatten des Atomiums zurückkehren. Doch auch das hat seinen speziellen Reiz. Die Sammler und Galeristen werden wohl folgen. Die Messe ist beliebt, das zeigt sich sowohl an den Besuchszahlen, als auch an den Verkäufen.
157 Galerien sind angereist, 36% davon kommen aus Belgien selbst und 64% aus dem Ausland, davon wiederum 12% aus Übersee. 88% der diesjährigen Teilnehmer waren auch auf der letzten Ausgabe 2019 mit von der Partie. Das bürgt für Kontinuität und Qualität. Genau das schätzen auch die Sammler. Große Besucherströme waren nicht nur am Donnerstag, dem Previewtag mit erweiterten Öffnungszeiten bis 22 Uhr zu verzeichnen, sondern auch an den Tagen danach.
„Selbst für einen Freitagnachmittag ist die Messe sehr gut besucht“, schwärmt etwa die Wiener Galeristin Josephine Wagner von der Galerie Raum mit Licht. „So etwas bin ich von Wien leider nicht gewohnt.“ Ihr Stand befindet sich in der Discovery Section, die viele belgische Sammler zuerst aufsuchen, um hier junge Talente zu entdecken. In diesem Jahr dürfen die Galerien hier erstmals zwei statt nur eine Position zeigen. Mit Neugier und Entdeckerlust unterwegs ist hier etwa auch der Brüsseler Sammler Frédéric de Goldschmidt, der pünktlich um elf Uhr zur Preview seinen Messerundgang startete ebenso wie auch sein Sammlerkollege Alain Servais. Anne Vierstraete, die Direktorin der Art Brussels kann diese Beobachtung nur bestätigen: „Belgische Sammler zeichnet ihre echte Leidenschaft für Kunst aus und der Wunsch eine künstlerische Position über einen langen Zeitraum weiterzuverfolgen. Gleichzeitig sind sie aber auch offen und neugierig genug nach neuen Trends und Talenten Ausschau zu halten“, so Vierstraete im Interview mit dem Pariser Magazin „Le Quotidien De L’Art“.
Josephine Wagner jedenfalls freute sich über den großen Zuspruch für ihren Stand. Auch sie hatte zwei Positionen mit nach Brüssel gebracht: die Malerin Titania Seidl, Jahrgang 1988, und den den 1977 geborenen Zeichner Josef Zekoff. Während Josef Zekoff auf humorvolle Art und Weise ebenso ironische wie aufs Wesentliche reduzierte Selbstporträts aufs Papier bringt, die ihn etwa bei gymnastischen Verrenkungen während des Lockdowns zeigen, geht Titania Seidl in ihrer Malerei anfänglich immer von eigenen Texten aus, die sie dann nach und nach in Bilder umsetzt. Besonders gefragt waren in Brüssel ihre kleinen Formate auf Holz mit Motiven, die sie meist in ihrer unmittelbaren Umgebung findet. Wie etwa einen fast altmeisterlich gemalten aufgeplatzten Granatapfel in einer Art Metallgestänge oder eine Zahnprothese, die von einer Vielzahl abstrakter bunter Formen umschwirrt wird, die an abgekaute Kaugummis erinnern (1.300 bis 1.500 Euro).
Gleich schräg gegenüber präsentiert die in Dublin beheimatete Green on Red Gallery den konzeptuellen irischen Fotografen Ronan McCrea, Jahrgang 1969. In seiner 2020 entstandenen „Study for Projection Series“ rekurriert dieser auf Konventionen der Produkt- und Werbefotografie der 1950er bis 1970er Jahre. Zu sehen sind manikürte weibliche Hände mit chromablauen Fingernägeln, die sowohl historische Projektionslampen als auch deren grafisch aufwendig gestaltete Verpackungen präsentieren. In einem komplexen Prozess, der analoge Studio- und Dunkelkammertechniken mit Methoden der digitalen Nachbearbeitung kombiniert, entstehen ebenso ästhetisch ansprechende wie tiefgründige Befragungen des Mediums Fotografie und seiner optischen, chemischen und technischen Bedingtheiten im Wandel der Zeit.
Einen für Liebhaber eher konzeptueller Arbeiten besonders attraktiven Stand hatte auch die Ani Molnár Gallery aus Budapest zusammengestellt. Der 1974 geborene ungarische Fotograf Zsolt Asztalos beschäftigt sich mit kognitiver Psychologie und adaptiert auch im klinischen Alltag verwendete, würfelartig ineinander verschachtelte Holzmodelle, die sich mit Erinnerungsprozessen beschäftigen, für seine konzeptuelle Fotografie. In einer Serie sind auch scheinbar idyllische Landschaftsaufnahmen aus Ungarn und Italien zu sehen, die jedoch auf dem Gelände ehemaliger Schlachtfelder der beiden Weltkriege aufgenommen wurden.
Diese konzeptuellen Fotografien korrespondierten sehr gut mit den großformatigen Schwarz-Weiß-Aquarellen des bosnischen Künstlers Radenko Milak, Jahrgang 1980. Er benutzt ausschließlich gefundenes und gesammeltes fremdes Fotomaterial als Vorlagen. Neuere Arbeiten beschäftigen sich mit der häuslichen Isolation im Lockdown. Ein besonders großes Blatt zeigt den Kabuler Flughafen aus der Vogelperspektive. Zu sehen ist der hektische Abzug der US-Armee und der Versuch verzweifelter Menschenmassen, im letzten Moment noch aus Afghanistan zu entfliehen. Anders jedoch als die Fernsehbilder, die an Flugzeuge geklammerte Flüchtende ganz aus der Nähe zeigten, nimmt Milak hier eine distanzierte Position ein, die die einzelnen Menschen nur als unzählige kleine Punkte erkennen lässt, so aber die ganze dramatische Dimension der damaligen Situation versinnbildlicht.
Doch zurück in die Hauptsektion der Messe. Die in Berlin, Köln und München ansässige Galerie Nagel Draxler ist mit gleich neun künstlerischen Positionen angereist. Darunter die belgische Konzeptkünstlerin Joëlle Tuerlinckx, Jahrgang 1958, die eine gefundene und anschließend mit spiegelnder Farbe lackierte Seeboje unter dem Titel „Iso silver (Boje), 2018, präsentiert, und die in Berlin lebende finnische Künstlerin Kirsi Mikkola, Jahrgang 1959, deren cartoonartige Fiberglasskulpturen „GLO“ auf ein resolutes feministisches Maskottchen verweisen, das Mikkola bereits in den 1990er Jahren erfunden hat.
Nagel Draxler hatte in Brüssel aber noch einen zweiten prominenten Auftritt. In den zentral gelegenen großzügigen Brüsseler Räumlichkeiten des Kölner Auktionshauses Lempertz präsentierte die Galerie den ganzen April über Gemälde des amerikanischen Malers Egan Frantz, Jahrgang 1986, die häufig vibrierende Farbfelder vor gestreiften oder geometrisch aufgefassten Hintergründen zeigen. Die museumsartige Jugendstilarchitektur mit ihren hohen Decken bot dafür den perfekten Rahmen.
Am Stand der Galerie Ron Mandos aus Amsterdam fielen die Arbeiten des in London lebenden Niederländers Bouke de Vries, Jahrgang 1960, ins Auge. Der ausgebildete Restaurator, der unter anderem im British Museum gearbeitet hat, rekonstruiert in seiner zweiten Existenz als bildender Künstler zu Bruch gegangene qualitativ hochwertige Vasen, indem er die Scherben der einst kostbaren Gefäße nicht etwa wieder zusammenklebt, sondern diese aufwändig in mundgeblasene Glasrepliken einschichtet, die exakt der ehemaligen Form der Vasen entsprechen. Die Scherben, die er benutzt, findet er auf Auktionen und auf der Marktplattform eBay. „Ich gebe ihnen eine zweite Chance“, sagt er. Seine ansprechenden Reinkarnationen überführen plötzlich wertlos Gewordenes in eine neue Form von Wertigkeit. Sie kosten zwischen 7.000 und 17.000 Euro.
Einen großen Erfolg feierte die Galerie Clearing mit Sitz in Brüssel, New York und Beverly Hills. Ihr Solostand mit teils bizarr geformten Lampen des Belgiers Koenraad Dedobbeleer, Jahrgang 1975, war bereits am Vernissagetag ausverkauft. Dedobbeleer hat auf der Insel Murano in Venedig nie in Serie gegangene Prototypen von Vasen aus farbigem Glas aufgespürt. Mehrere Vasen hat er dann jeweils zu einer Hängelampe umfunktioniert. Diese Unikate waren offenbar bei den Sammlern sehr beliebt. Benutzbare Kunst für je 15.000 Euro.
Am Stand von dépendance aus Brüssel fielen etwas versteckt zwei schöne Collagen auf Vinyl-LP-Basis in 70er Jahre-Optik von Linder Sterling ins Auge. Die allgemein als Linder bekannte, feministische britische Künstlerin, Jahrgang 1954, ist längst kein Geheimtipp mehr. Die beiden Collagen kosteten je 7.800 Euro.
Der bayerische Galerist Michael Zink, der seine ehemals in Berlin angesiedelte Galerie mittlerweile nach Waldkirchen in der Oberpfalz verlegt hat, hat seinen Stand in diesem Jahr unter dem Motto „Flowers for the Bold“ in eine Art Blumenladen verwandelt. Damit liegt er voll im Trend. In diesem Jahr zeigen nämlich auch viele in Brüssel angesiedelte Galerien während der Messezeit Ausstellungen zum Thema Natur und Landschaft. Vielleicht entspringt das nach der langen Zeit der Pandemie ja ganz einfach einem weit verbreiteten Bedürfnis des Publikums. Michael Zink geht sogar noch einen Schritt weiter. Er hat den bekannten Antwerpener Floristen Mark Colle beauftragt, aufwändige Blumenarrangements und -girlanden rund um die Kunstwerke zu platzieren. Alle Arbeiten haben Blumen und Florales im engeren oder weiteren Sinne zum Thema. Vertreten ist rund ein Dutzend Künstler:innen, darunter etwa das österreichisch-israelische Künstlerpaar Muntean/Rosenblum, beide Jahrgang 1962, und der neoexpressionistische Antwerpener Maler Klaas Rommelaere, Jahrgang 1986, dessen atelierfrische Serie „Johnny“ den Stand dominiert. Ob Kaktus oder Blumenstrauß – Michael Zinks frühlinghaft-verspieltes Standkonzept kam in Brüssel offenbar an.
Direkt gegenüber dann ein eher dystopisches Kontrastprogramm am Stand von Jahn und Jahn aus München. In Rahmen einer Solopräsentation hat der 1981 in Fürth geborene Berliner Künstler Stefan Vogel ein ungewöhnliches Environment mit entlaubten Bäumen, sensiblen Textarbeiten im Stil der Konkreten Poesie, einer Bodenmalerei und einem verrotteten Kühlschrank aufgebaut. Betreten ausdrücklich erwünscht. Vogel startet gerade so richtig durch. Nach einer Einzelausstellung in den Kunstsammlungen Chemnitz und neuen Katalogen steht demnächst ein Aufenthalt in der Villa Massimo in Rom an.
Wenn die Besucher der Art Brussels genug Kunst gesehen haben, nehmen sie sich gerne etwas Zeit für eine kleine Pause auf der belgischen Bierterrasse bei Bier, Hamburgern oder dick geschnittenen Pommes Frites mit extra viel Mayonnaise. Wer dann noch genügend Kondition hat, macht sich auf den Weg ins Wiels, das Zentrum für zeitgenössische Kunst, wo zur Zeit drei hochinteressante Ausstellungen laufen. Die Solo-Show „Husbandry“ des bereits von der Gladstone Gallery vertretenen jungen Belgiers Kasper Bosmans, Jahrgang 1990, ist eine echte Entdeckung. Sie verbindet zeichnerisch-malerisches Talent, konzeptuelle Herangehensweisen und den gekonnten Umgang mit ungewöhnlichen Materialien wie Sand oder Emaille mit der genauen Beobachtung aktueller Natur- und Umweltphänomene, aber auch lokaler Traditionen aus der limburgischen Heimatregion des Künstlers und Fragen queerer Codes und Ästhetiken.
Dann eine Präsentation der bisher im internationalen Ausstellungsbetrieb noch unterschätzen libanesischen Künstlerin Hueguette Caland (1931-2019). Und schließlich zwei zwischen Brachialität und Entschleunigung oszillierende längere Filmarbeiten der US-Amerikanerin Lucy Raven, Jahrgang 1977, die sich unter anderem mit Explosionen auf einem Versuchsgelände des US-Militärs in New Mexico und Produktionsprozessen in einem Zementwerk in Idaho beschäftigen. Ein Raum mit Fotoarbeiten ergänzt die Schau.
Viele Gründe also, nach Brüssel zu kommen. Die Kunstszene läuft hier zu ihrer alten Form auf, zur Zeit ganz ohne Maske und Impfnachweis und mit viel Optimismus und Elan. Schade nur, dass die Art Brussels sowohl auf die beliebten, oft von Künstler:innen gestalten Tote Bags als auch auf einen gedruckten Katalog verzichtet, angeblich aus ökologischen Gründen. Eine Website jedoch, die noch nicht einmal direkt auf die Homepages der Galerien verlinkt, kann einen gut gemachten Katalog als dauerhaft verfügbares Nachschlagewerk jedoch nicht ersetzen. Hoffen wir, dass diese falsche Sparsamkeit noch einmal von den Verantwortlichen der Messe überdacht wird.
Und für diejenigen, die nicht ein Jahr auf die nächste Art Brussels warten wollen, bietet sich kurz vor Weihnachten ein Besuch der im vergangenen Jahr gelaunchten, kleinen Schwestermesse Art Antwerp an. Diese findet vom 15. bis 18. Dezember 2022 auf dem Antwerpener Messegelände Antwerp Expo statt und präsentiert rund 60 Galerien aus Belgien und seinen unmittelbaren Nachbarländern.
Nachtrag: Wie die Messe in ihrem Schlussreport mitteilte, konnte sie 24.541 Besucher:innen verzeichnen und damit nahezu die Besucherzahl von 2019 erreichen. Damals besuchten 25.473 Kunstliebhaber:innen die letzte Ausgabe der Art Brussels vor der Pandemie.
Auf einen Blick:
Messe: 38. Art Brussels Contemporary Art Fair
Ort: Tour & Taxis Brüssel, Avenue du Port 86c
Zeit: bis 1.5.2022, 11-19 Uhr
Internet: www.artbrussels.com
Nächster Termin: 20.-23.4.2023