Die Stadt Luxemburg und Esch-sur-Alzette sind die beiden größten Städte des Großherzogtums Luxemburg. Das im Ausland noch weitgehend unbekannte Esch jedoch ist in diesem Jahr europäische Kulturhauptstadt und kann der Hauptstadt in mancherlei Hinsicht die Stirn bieten
Auf einem Werbeplakat am Flughafen Luxemburg steht: „Mit Luxemburger Stahl wurden die Wolkenkratzer in New York gebaut“. Heute ist es eher der Finanzsektor als die Stahlindustrie, der den Wohlstand des Großherzogtums ausmacht. Die idyllisch in einem Flusstal gelegene Hauptstadt Luxemburg platzt jedoch aus allen Nähten. Die Immobilienpreise und Mieten sind astronomisch hoch. Und viele der nach dem Brexit aus London abgewanderten Unternehmen aus der Finanzbranche haben sich wegen des Platzmangels in Frankfurt, Paris oder Dublin angesiedelt, statt, wie erhofft, in der Steueroase Luxemburg.
Deshalb rückt jetzt die zweitgrößte Stadt des Landes in den Fokus: Esch-sur-Alzette, im Süden an der französischen Grenze gelegen. Esch ist eine der drei europäischen Kulturhauptstädte 2022. Ähnlich wie im Ruhrgebiet ist auch hier ein tiefgreifender Strukturwandel im Gange. Große Stahlwerke wurden geschlossen und stehen als Baudenkmäler am Rande bereits neu gegründeter oder gerade im Entstehen begriffener Stadtteile. Eine Universität in neuen Quartier Belval befindet sich neben einem Shoppingcenter mit trendigen Steakhäusern und Sushi-Restaurants. Gleich nebenan wird zur Zeit das neue Luxemburger Nationalarchiv gebaut. Re-Urbanisierung lautet hier das Stichwort. Schöne neue Welt.
Und die Kunst? In Esch wurde im Oktober 2021 die Konschthal Esch eröffnet, ein ambitioniertes Ausstellungshaus im Multi-Kulti-Stadtteil Brill unter der Leitung des aus der Stadt stammenden Kunsthistorikers, Fotografen und Kurators Christian Mosar. Zu Eröffnung punktete man hier mit einer großen Gregor Schneider-Schau unter dem Titel „Ego-Tunnel“. Und in diesem Sommer setzt Mosar zusammen mit seinem Projektleiter Charles Wennig auf ein spektakuläres Kunstwerk, das erneut viele Besucher in die Konschthal locken soll. Der dänische Künstler Jeppe Hein (*1974) hat in das Ausstellungshaus eine interaktive Kugelbahn mit dem Titel „Distance“ gebaut, die sich über drei Etagen erstreckt und nahezu jeden Winkel ausnutzt. Das ursprünglich aus dem Jahr 2004 stammende Werk war bereits in zahlreichen internationalen Museen zu Gast. Es wird dem jeweiligen Ausstellungsort entsprechend ortsspezifisch angepasst.
So auch in Esch. Alle Besucher:innen, die die Konschthal betreten, lösen per Bewegungssensoren den Lauf eines großen weißen PVC-Balls aus, der dann über Rampen, kleine Hebeanlagen und Spiralen hinweg lautstark durch das Gebäude saust. Die Besucher:innen können versuchen, „ihrem“ Ball auf einem rund 800 Meter langen Rundkurs durch das Gebäude zu folgen oder auch nur mit den Augen den Weg der anderen Kugeln nachvollziehen. Je nach Besucheraufkommen ist das entweder ein kontemplativer oder auch verwirrender Zeitvertreib. Auf jeden Fall werden Schwellenängste abgebaut und das Publikum lernt auf geradezu spielerische Art und Weise, das Ausstellungshaus kennen. Jeppe Hein ist bekannt dafür, zusammen mit den Mitarbeiter:innen seines Berliner Studios spektakuläre und verblüffende Installationen für Museen, Parks und den öffentlichen Raum zu entwerfen. Ob interaktive Brunnen, wie von Geisterhand bewegte Besucherbänke im Museum oder Spiegellabyrinthe – die partizipatorische Kunst von Jeppe Hein ist zugänglich und nicht ohne Witz, einerseits gespickt mit Jahrmarktelementen, aber auch mit subtilen Verweisen auf die Minimal Art und einer wohldosierten Portion Nachdenklichkeit über das menschliche Sein und Miteinander.
Doch die Konschthal Esch hat in diesem Sommer nicht nur die Kugelbahn-Kunst von Jeppe Hein zu bieten. Noch bis zum 4. September 2022 läuft parallel die Ausstellung „Metalworks – designing & making“, kuratiert von Georges Zigrand und Charlotte Masse. In dieser Schau geht es um die Verbindung von Kunst, Design und Produktion am Beispiel der Herstellung von Mobiliar und Wohnaccessoires aus Metall. Gleichzeitig wird aber auch der programmatische Rahmen der noch jungen Konschthal definiert, die sich neben bildender Kunst in Zukunft auch immer wieder mit benachbarten Kulturfeldern wie dem Design beschäftigen wird. Fast schon in lexikalischer Vollständigkeit werden die wichtigsten Methoden der Metallbearbeitung vom Gießen über das Hämmern und Fräsen bis hin zum 3D-Druck aufgezeigt und anhand ausgewählter Exponate belegt. Der dezent brutalistische Sichtbetoncharme der Ausstellungsräume korrespondiert perfekt mit den metallenen Tischen, Bänken, Sesseln, Kleiderständern, Lampen und Hockern.
Zu den ältesten Exponaten der Schau zählt der 1986 entstandene „Well Tempered Chair“, ein kurvenreiches Sitzmöbel aus gehärtetem Stahl und zahlreichen Verschraubungen des israelischen Designers Ron Arad (*1951). Ein weiteres Referenzmodell für die jüngere Designgeschichte stellt der aus einer einzigen kurvig gebogenen und polierten Aluminiumplatte hergestellte Sessel „LC95A“ (1993-1995) des belgischen Designers Maarten van Severen (1956-2005) dar. Heutzutage dagegen kommen vermehrt auch auf Prinzipien des Recycling und der Nachhaltigkeit basierende Konzepte zum Einsatz. So entstehen etwa die „Can Stools“ des britisch-japanischen Kollektivs Studio Swine aus weggeworfenen Getränkedosen. In der brasilianischen Megacity São Paulo hat die Gruppe in mobilen Minigießereien einfache Hocker direkt auf der Straße hergestellt. Als kostenloser Energieträger für den Schmelzprozess diente ausgedientes Frittierfett aus benachbarten Lokalen. Gerade vor dem Hintergrund der langen Tradition der Stahl- und Eisenherstellung in Esch ist diese Ausstellung in der Konschthal Esch genau am richtigen Platz. Zudem befindet sich die Konschthal in den Räumlichkeiten eines früheren Möbelhauses. Was gäbe es also Passenderes, in einer der ersten Ausstellungen an diese Tradition anzuknüpfen?
Für den kommenden Herbst plant Konschthal-Direktor Christian Mosar noch eine umfangreiche Einzelausstellung mit dem litauischen Künstler Deimantas Narkevičius sowie eine Schau mit fotografischen Porträts des für seine ebenso einfühlsamen wie repräsentativen fotografischen Gruppenporträts bekannten Künstlerduos Clegg & Guttmann. Die von der Malerei des 16. und 17. Jahrhunderts beeinflussten konzeptuellen Fotokünstler zeigen in Esch jedoch eine ganz besondere Auswahl ihres Schaffens: und zwar diejenigen Porträts, die von den Auftraggebern aus Wirtschaft, Politik, Adel und Großbürgertum abgelehnt wurden – darunter wohl auch ein Bildnis des damaligen Regierenden Bürgermeisters von Berlin Klaus Wowereit. In Planung ist weiterhin eine thematische Gruppenausstellung zum Phänomen Eigenheim – auch keine schlechte Wahl für Luxemburg, wo das Thema Immobilien ja, wie eingangs erwähnt, eine so wichtige Rolle spielt.
Nicht weit entfernt von der Konschthal befindet sich das historische Bridderhaus, ein 1878 errichtetes ehemaliges Krankenhaus für die Arbeiter eines Stahlwerks. Christian Mosar ist gerade dabei, den Komplex zu einem gut ausgestatteten Atelierhaus für 17 Stipendiat:innen auszubauen. Wohn- und Arbeitsmöglichkeiten, Galerien, eine große Gemeinschaftsküche, ein Garten und ein Restaurant für besondere Anlässe werden demnächst zur Verfügung stehen.
In einem bereits fertig renovierten, kleinen Nebengebäude wohnt und arbeitet hier bereits das unter dem Label „Mobile Radio“ operierende Künstler:innenduo Sarah Washington und Knut Aufermann. Die beiden sind sozusagen permanent auf Sendung. In Zusammenarbeit mit der Europäischen Kulturhauptstadt und der documenta fifteen betreiben sie das 100-tägige Radioprojekt „Radio Art Zone“, einen Radiosender, der 24 Stunden am Tag nonstop sendet – im Internet und auf UKW. Sie laden Künstler:innen aus der ganzen Welt ein, ausgedehnte Radiobeiträge zu liefern. Darüberhinaus produzieren sie jeden Mittag die zweistündige Sendung „À table“ aus den Privatküchen, Kantinen, Gärten und Picknickzonen von Esch und Umgebung, wo sie ganz unterschiedliche Menschen beim Zubereiten ihres Mittagessens mit dem Mikrofon begleiten.
Wer die Stadt Esch besser kennenlernen möchte, der kann das am besten auf dem Skulpturenparcours „Nothing Is Permanent“ tun, den der Luxemburger Galerist Alex Reding kuratiert hat. Schon der Titel, der einem Gemälde des vor 20 Jahren bei einem Flugzeugabsturz im Alter von 35 Jahren ums Leben gekommenen Luxemburger Künstlers Michel Majerus entnommen ist, legt es nahe: Nichts hält für immer, der Zahn der Zeit schreitet unablässig voran und stellt so manche Gewissheit in Frage. Dennoch ist Alex Reding darum bemüht, dass einige der 23 Skulpturen, die teils auf Industriebrachen, teils vor wichtigen Gebäuden des Stadt Esch aufgestellt worden sind, angekauft werden und dann womöglich dauerhaft in der Stadt bleiben. Insofern ist der Titel der Schau auch durchaus etwas kokett ausgewählt.
Dauerhaft bleiben könnte vielleicht auch der geflügelte Mann in schwarzer Hose und weißem Hemd von Stephan Balkenhol (*1957) mit dem Titel „Engelmann“ (2021), der vor dem Nebeneingang des Musée National de la Résistance aufgestellt wurde. Direkt vor der Konschthal Esch steht die „Modified Social Bench # 14“ (2012) von Jeppe Hein, ein absurdes, nicht auf konventionelle Art und Weise benutzbares Exemplar aus seiner Serie meist weißer Parkbänke, die er weltweit im öffentlichen Raum platziert.
Im Rahmen der Kulturhauptstadtprojekte ist auch das 1960 errichtete, ehemalige Kino „Ariston“ komplett restauriert worden. Im eleganten Bar-Bereich hat der österreichische Künstler Christoph Meier (*1980) an einer Spiegelwand Neonschriftarbeiten installiert, die sich auf die Lautmalerei in Comics der 1950er und 1960er Jahre beziehen. Seine Werkgruppe trägt den an die Comicsprache angelehnten Titel „Eeesch!“. Katinka Bock (*1976) hingegen hat den Giebel einer ehemaligen Industriehalle mit zwei uhrzeigerähnlichen Stangen markiert. Der schweizerische Bildhauer Valentin Carron (*1977) wiederum platzierte eine wie ein überdimensionales Knetgummimännchen wirkende, blaue Figur mit einem Hund auf dem Arm am Eingang zu einem Friedhof. Zwei große säulenartige Gebilde aus der Werkreihe „Points of View“ von Tony Cragg (*1949) stehen vor dem Hôtel de Ville.
Und der für seine schelmenhaften Installationen bekannte belgische Künstler Guillaume Bijl (*1946) hat sich den Platz vor dem im eleganten Stil des Art Déco errichteten Städtischen Hallenbad ausgesucht, um dort einen Zauberer aufzustellen, der den klassischen Trick mit der schwebenden Jungfrau vorführt. Neben einem Spielplatz dann als klassisches Beispiel einer „Drop Sculpture“ drei zusammengeknüllte Zeitungsseiten in Bronze des chinesischen Künstlers Wang Du (*1956). Und auf einer Brache unweit eines ehemaligen Stahlwerks steht die Skulptur „Rabbiator (Hellboy Gaultier)“ (2021) des Balkenhol-Schülers Stephan Rinck (*1973). Eine an einem menschlichen Schädel nagende, hasenähnliche Figur, der bei aller Verspieltheit allerdings auch etwas Diabolisches innewohnt. Vielleicht eine kritische Anspielung auf den allzu stark ausgeprägten Entrepreneur-Geist in Luxemburg? Auf der Brache sollen demnächst Tausende von neuen Wohnungen entstehen.
Alex Reding ist der wichtigste Galerist in Luxemburg. Er betreibt seine Galerie Nosbaum Reding Gallery am zentralen Fischmarkt mitten im Zentrum der Stadt Luxemburg. Bereits im Jahr 2001 gründete er zusammen mit Véronique Nosbaum eine junge Galerie, die unter dem naheliegenden Namen „Alimentation Génerale“ in den Räumen eines ehemaligen Lebensmittelgeschäfts residierte. Mittlerweile hat die Galerie auch eine Filiale in Brüssel. An Alex Reding kommt keiner vorbei, der in Luxemburg etwas mit Kunst zu tun hat. Er ist auch der Gründer und Motor der seit 2005 bestehenden Kunstmesse „Luxembourg Art Week“ mit zahlreichen über die ganze Stadt verteilten Side Events.
In den eleganten Räumen seiner Galerie sind zur Zeit unter dem Titel „Transparente Verdichtung“ Aquarelle und Skulpturen des 86-jährigen Kölner Künstlers Joachim Bandau zu sehen. Eine Wiederentdeckung: Der konzeptuell arbeitende Bandau, bekannt für seine zeitaufwändig aus unzähligen, sich überlagernden Farbschichten produzierten, minimalistischen Aquarelle, wird auch auf der nächsten Lyon Biennale gezeigt.
Gleich nebenan befindet sich der Projektraum der Galerie. Den Raum bespielt das Künstlerduo Wennig & Daubach mit aufblasbaren, schwarzen Hüpfburgelementen, die an den Wänden entlang platziert sind. Unter dem Titel „Blow-up History“ platzieren die beiden ihre schwarzen, luftgefüllten Gummiformen seit Jahren regelmäßig in ehemaligen Kirchen und an anderen markanten Orten.
Mit ihren Arbeiten rufen sie im Laufe der Geschichte verlorengegangene, oft nur noch mündlich überlieferte oder für die Öffentlichkeit unsichtbar gewordene Räume, Architekturen oder Begebenheiten kurzzeitig wieder in Erinnerung und schärfen so die Aufmerksamkeit der Betrachter:innen für die geschichtliche Aufladung des jeweiligen Ortes. Gleichzeitig verfügen die Arbeiten aber auch über eine spielerisch-ironische Komponente. Fakt oder Fiktion? So ganz sicher sein kann man sich bei den Projekten dieses Künstlerduos nicht.
Doch zurück nach Esch. Im Stadtteil Belval befindet sich unterhalb eines ehemaligen Stahlwerks die Möllerei, eine Ausstellungshalle, die bis heute den nach Kohle, Russ und Maschinenöl riechenden Charme der Schwerindustrie verströmt. Im Rahmen der Kulturhauptstadt arbeitet man hier mit den Institutionen ZKM Karlsruhe, Haus der elektronischen Künste Basel und dem Festival Ars Electronica in Linz zusammen. Zur Zeit ist die vom HEK in Basel entwickelte Schau „Earthbound – Im Dialog mit der Natur“ zu sehen. Es geht um innovative Darstellungsweisen von Natur in den digitalen künstlerischen Medien. Die von den Kurator:innen Sabine Himmelsbach und Boris Magrini zusammengestellte Schau versammelt 19 technisch herausfordernde internationale Positionen. Sie fügt sich sehr gut in das stark abgedunkelte Ambiente der Industriehalle ein.
Etliche interaktive Arbeiten machen die Schau für die Besucher:innen sinnlich erlebbar. So werden etwa die Besuchenden der Installation „The Intimate Earthquake Archive“ von Sissel Marie Tonn & Jonathan Reus mit interaktiven Westen ausgestattet, die seismische Vibrationen simulieren, die in der nordholländischen Provinz Groningen durch die Bohrung nach Erdgas ausgelöst wurden. Die für die Arbeit verwendeten Datensätze stammen aus der Datenbank des niederländischen Erdbeben-Instituts. Das litauische Künstlerinnenduo Rasa Smite & Raitis Smits wiederum entführt die Betrachter:innen mittels VR-Brillen in einen digitalisierten Wald. Auf der Basis von wissenschaftlichen Daten simuliert ihre Arbeit mit visuellen und klanglichen Elementen die Atemaktivität der Bäume in einem Waldgebiet der Schweizer Alpen. Ein weiteres Hightlight der Schau: Die Videoarbeit „Progress vs. Sunsets – Re-formulation the Nature Documentary“ der niederländischen Künstlerin Melanie Bonajo, die Kinder im Grundschulalter Tierbilder kommentieren lässt. Die Arbeit ist leichtgängig, entlarvend und witzig, ohne dabei voyeuristisch zu wirken. Gemütliche Sitzsäcke laden zum entspannten, längeren Verweilen ein.
Allen Arbeiten von „Earthbound“ gemeinsam ist die künstlerische Beschäftigung mit drängenden Umweltproblemen wie dem Artensterben, dem Klimawandel, der Ressourcenknappheit und der Vermüllung der Ozeane. Durch den Einsatz digitaler Bildmedien sensibilisieren viele der Arbeiten das Publikum für sonst nur anhand von Zahlen, Statistiken und wissenschaftlichen Aufsätzen vermittelbaren Phänomenen.
Von Esch in die Stadt Luxemburg fährt man praktischerweise mit einem der in Luxemburg seit zwei Jahren für jedermann kostenlosen Züge. Die Entfernung ist schnell zu überbrücken, ob für Pendler oder für Kulturtouristen. In der Stadt Luxemburg eröffnete im Jahr 2006 das MUDAM (Musée d’Art Moderne Gran-Duc Jean) auf dem Kirchberg-Plateau hoch über den Schluchten der Altstadt. Entworfen wurde das markante Gebäude mit rund 3.000 Quadratmeter Ausstellungsfläche von dem chinesisch-amerikanischen Architekten I. M. Pei. Das Haus begreift sich ausdrücklich als Museum der Gegenwart. Die ältesten Arbeiten der Sammlung stammen aus dem Jahr 1989. Die neue Generaldirektorin des in jeder Hinsicht gut aufgestellten Hauses ist Bettina Steinbrügge, die zuvor acht Jahre lang Direktorin des Kunstvereins in Hamburg war.
Die aktuelle Ausstellung der in Berlin und Los Angeles lebenden britischen Künstlerin Tacita Dean (*1965) hat jedoch noch ihre Vorgängerin, die Australierin Suzanne Cotter, gemeinsam mit dem Ausstellungsleiter Christophe Gallois kuratiert. Tacita Dean ist insbesondere mit ihren stets analogen, selbst geschnittenen Filmen, aber auch mit Fotografien, Malerei, Zeichnungen, Bühnenbildern und Soundinstallationen auf zahlreichen Museumsausstellungen und Biennalen einem größeren internationalem Publikum bekannt geworden. Im Mittelpunkt ihrer Ausstellung im MUDAM steht jetzt ihr neuer 50½- minütiger Film „One Hundred and Fifty Years of Painting“ (2021), der in einem eigens dafür entworfenen Pavillon gezeigt wird. Hier bringt sie zwei in die USA ausgewanderte Malerinnen zusammen, mit denen sie zuvor schon privat befreundet war, und die zufällig am selben Tag Geburtstag haben. Am 28. November 2020 ist die in Addis Abeba, Äthiopien geborene Julie Mehretu 50 Jahre alt geworden. Luchita Hurtado, die in Caracas, Venezuela geborene Mutter des Konzeptkünstlers Matt Mullican, wäre am selben Tag 100 Jahre alt geworden. Leider hat sie ihren 100. Geburtstag jedoch nicht mehr erlebt.
Tacita Dean filmte den Dialog der beiden Malerinnen im Januar 2020 im Apartment von Luchita Hurtado in Santa Monica in ruhigen Bildern und langen Einstellungen auf klassischem Celluloid-Film. Zustande gekommen ist ein berührendes Gespräch über Leben und Sterben, das Verlassen der ursprünglichen Heimat und das Ankommen in den Vereinigten Staaten, Mutterschaft, Klimawandel und selbstverständlich auch das Malen an sich. Zwei ausgewählte Gemälde der beiden, die auch Gegenstand des Dialogs sind, werden im Eingangsbereich des Pavillons präsentiert. Die Betrachter:innen können die besonnene, respektvolle Annäherung der jüngeren Malerin an die würdevolle 99-jährige Grande Dame, in bequemen Kinosesseln sitzend, nachvollziehen.
Daneben bietet die Schau aber auch die Gelegenheit, anhand etlicher anderer Werkgruppen tiefer in den künstlerischen Kosmos von Tacita Dean einzutauchen. Zu sehen sind unter anderem Arbeiten, die im Kontext ihrer Beauftragung für das Bühnenbild des Ballets „The Dante Project“ im Royal Opera House in London entstanden sind. Darunter eine von Dantes Inferno inspirierte Bergdarstellung auf einer großen Schiefertafel in gleich doppelter Brechung, nämlich auf dem Kopf stehend und als Negativbild dargestellt. Beeindruckend sind auch die großformatigen, auf analogen Fotografien basierenden Werke aus der Serie „Purgatory (Threshold)“ (2020) mit stark verfremdeten Ansichten von profanen Straßenszenen und blühenden Jacaranda-Bäumen in Los Angeles.
Viele Gründe also, in diesem Sommer oder Herbst nach Luxemburg zu kommen, wiederzukommen und zu erkunden, was sich in der gut aufgestellten Kunstszene tut. Der Kontrast zwischen Esch, der im Strukturwandel begriffenen Industriestadt, und der Stadt Luxemburg, der repräsentativen und Wohlstand verkörpernden Hauptstadt des Landes, ist groß. Die Entwicklung geht jedoch dahin, dass Esch in Zukunft wohl nicht nur zur Wohnstadt für zahlreiche Neubürger sondern durch die vermehrte Ansiedlung von Dienstleistungsbetrieben, wissenschaftlichen, kulturellen und öffentlichen Einrichtungen zum zweiten wichtigen Player in der Luxemburger Kultur- und Wirtschaftslandschaft wird. Die internationale Aufmerksamkeit, die durch das Kulturhauptstadtjahr 2022 auf Esch gelenkt wird, dürfte den Standort, wenn sie denn nachhaltige Spuren hinterlässt, auch auf Dauer attraktiv zu machen.
www.mudam.com
www.luxembourgartweek.lu