Ein Blick auf die Kunst der Zukunft: Das „Forecast Forum Edition 7“ stellte jetzt im Radialsystem Berlin an drei abwechslungsreichen Abenden 18 Bewerber:innen für das internationale Mentorship-Programm vor
Was haben der malawische Comedian Daliso Chaponda, die libanesische Investigativ-Journalistin Alia Ibrahim, die österreichische Choreographin Florentina Holzinger, die kolumbianisch-französische Filmregisseurin Laura Huertas Millán, die serbisch-amerikanische Künstlerin Ana Prvački und der indonesische Vokalist Rully Shabara gemeinsam? Auf den ersten Blick vielleicht nicht viel, bei genauerem Hinschauen jedoch eine ganze Menge. Alle sechs nämlich fungieren in diesem Jahr als Mentor:innen bei Forecast, einem internationalen Mentorship-Programm, das weltweit seinesgleichen sucht.
Forecast ist ein Projekt des Vereins Skills e.V.. Es wird unterstützt mit Geldern der Beauftragten der Bundesregierung für Kultur und Medien, Claudia Roth. Doch auch die Goethe-Institute sowie weitere nationale Kulturinstitute wie etwa das British Council oder das Institut Français zählen zu den langjährigen Förderern und Partnern von Forecast.
Am vergangenen Wochenende wurde das Radialsystem Berlin zum wiederholten Male zur großen Bühne für diejenigen unter den Bewerber:innen, die es in die Schlussrunde für die Saison 2022/23 geschafft haben. Jede/r der Mentor:innen konnte sich nämlich aus der hohen Zahl von mehr als 1.000 Bewerbungen jeweils drei Nominees auswählen. Diese wurden jetzt eingeladen, ihr Projekt auf den großen und kleinen Bühnen, den Studios und dem Freigelände des Radialsystems dem Berliner Publikum vorzustellen. Den Publikumstagen voraus ging eine mehrtägige interne Phase des Aufbaus, der Proben und vor allem der Get-togethers, in deren Rahmen sich die Nominees und Mentor:innen bei Gruppenaktivitäten und Workshops besser untereinander kennenlernen sollten. Das „Forecast Forum Edition 7“ fand an drei aufeinanderfolgenden Abenden statt, und es bot dem Publikum die Gelegenheit, höchst unterschiedlichen Präsentationsformen und Aufführungsformaten beizuwohnen. Angesichts des gegenwärtig von Social Distancing und allgemeiner Verunsicherung geprägten gesellschaftlichen Klimas wurden für die Forecast Saison 2022/23 ganz bewusst Mentor:innen ausgewählt, deren Praxis stark von Körperlichkeit und unmittelbarer Erfahrung geprägt ist.
Der erste Abend wartete mit Präsentationen aus den Themenblöcken „Slapstick and Seduction“ sowie „Humor and Storytelling“ auf. Die Mentorin für „Slapstick & Seduction“ heißt in diesem Jahr Ana Prvački. Sie ist eine international bekannte, interdisziplinär arbeitende Performance- und Installationskünstlerin mit serbisch-amerikanischen Wurzeln, die seit einigen Jahren in Berlin lebt. Zur Zeit ist sie mit einem innovativen digitalen Projekt im Berliner Gropius Bau vertreten. „Apis Gropius“, eine Augmented Reality Experience im Lichthof des Ausstellungshauses, nimmt die Besucher:innen mit auf eine imaginäre Reise durch das Gebäude, in welcher eine fiktive Bienenart mit den Nutzer:innen in einen ebenso humorvollen wie wissenschaftlich seriösen Dialog über das Verhältnis Mensch und Nutztier sowie andere ökologische Fragestellungen tritt.
Angesichts ihrer künstlerischen Praxis liegt es natürlich nahe, dass auch Ana Prvačkis Nominees mit ihren Projektvorschlägen an den Schnittstellen von Kunst und Naturwissenschaft operieren. Die kroatische Künstlerin Mia Štark etwa stellte in ihrem performativen Kurzvortrag die eigentümlichen Fernsehgewohnheiten ihrer Großmutter vor und beschäftigte sich davon ausgehend mit der Frage, wie wir mediale Inhalte wahrnehmen und uns davon unbewusst beeinflussen lassen.
Die in den Niederlanden lebende US-amerikanische Künstlerin Sasha Bergstrom-Katz wiederum beschäftigte sich in ihrer perfekt inszenierten und kurzweiligen Performance mit Intelligenztests und Taschenspielertricks.
Und die spanische Künstlerin Aïda Gómez, die leider nicht selbst anreisen konnte, stellte ein Projekt vor, das sich mit dem ubiquitären Phänomen des Baumstumpfs in Straßen und Parks beschäftigt. Stellvertretend für die Künstlerin führte ein Berliner Schauspieler das Publikum in den Außenbereich des Radialsystems, wo sich ein auf dem Rasen platzierter Baumstumpf schließlich als essbare Torte erwies, die an alle Teilnehmenden verteilt wurde.
An dieser Stelle würde es einfach zu weit führen, alle 18 vorgestellten Projekte ausführlich zu beschreiben. Daher im Folgenden nur ein paar Stichworte, die das Spektrum dessen aufzeigen, was bei Forecast vorgestellt wurde:
So stellte etwa der junge pakistanische Filmemacher Hamza Baig in der von dem mit großen Entertainerqualitäten ausgestatteten malawischen Comedian Daliso Chaponda moderierten Sektion „Humor and Storytelling“ das Promovideo für eine geplante Webserie vor. In derselben Sektion las auch die im New Yorker Exil lebende queere ugandische Schriftstellerin Patricia Achiro Olwoch aus ihrem gerade entstehenden Debutroman „Sex or Slave“ einige Passagen vor. Und die kanadisch-französische Autorin und Comedienne Jo Güstin gab eine Kostprobe ihres mit schwarzem und queerem Humor gespickten Programms.
Am zweiten Abend dann standen zunächst unter dem Titel „Reworlding Stories“ Projektvorschläge im Fokus, die bei der französisch-kolumbianischen Filmemacherin Laura Huertes Millán eingereicht wurden. Das Spektrum reichte hier von Erzähltraditionen in den bolivianischen Anden (Luciana Decker Orozco) über das verborgene Leben der Schlangen (Constantin Jopeck) bis hin zu den von der britischen Kolonialmacht in Pakistan errichteten Bergstädten, deren touristische Beliebtheit dazu führt, dass der ökologische Kollaps ihrer waldreichen Umgebung kurz bevorsteht (Hira Nabi).
Im zweiten Teil des Abends wurden Projekte vorgestellt, die bei der libanesischen Investigativjournalistin Alia Ibrahim eingereicht wurden. Das Spektrum reichte hier von einer künstlerischen Recherche zu tragischen Unfällen an Filmsets (Alexis Guillier) über ein partizipatives Theaterexperiment (Siu Hei Chung) bis hin zur Vorstellung eines Filmprojekts über die politisch-religiösen Spannungen zwischen Irland und Nordirland (Yurika Higashikawa).
Am letzten Abend schließlich präsentierten der indonesische Vokalist und „Stimmenforscher“ Rully Shabara und die österreichische Choreographin und Performancekünstlerin Florentina Holzinger ihre Nominees. Der erste Teil des Abends rankte sich um so unterschiedliche Themen wie die Dekonstruktion und Neuinterpretation der traditionellen Peking-Oper (Peny Chan), die Überlegenheit des Kommunikationsmittels Musik gegenüber dem der Sprache (Agustina Crespo) und die langsame Auslöschung indigener Dialekte im indischen Westbengalen (Pratyay Raha).
Die Mentorin Florentina Holzinger ist für ihre extremen Inszenierungen bekannt, die mit einer Mischung aus Nacktheit, Stunts, Akrobatik und selbstverletzenden Handlungen an die Grenzen des Darstellbaren gehen. Da ist es nur verständlich, dass auch ihre Nominees Projekte der etwas provokanteren Art vorstellten. Das Spektrum hier reichte von einer Performance, in welcher das Phänomen des Erbrechens künstlerisch ausgetestet wurde (Tom Cassani), über eine queer-feministische Installation und Performance mit unkonventionellen Requisiten wie Sex-Toys (Cochon de Cauchemar) bis hin zu einem performativen Ausflug in den von Abholzung und Kapitalinteressen bedrohten brasilianischen Urwald, inspiriert von den Texten der jungen indigenen Aktivistin Shirley Krenak (Thaís Medeiros).
Einen Publikumspreis gibt es verständlicherweise nicht. Jede/r der Mentor:innen steht in den nächsten Tagen vor der schwierigen Entscheidung, von den drei Nominees jeweils eine Person als Mentee auszuwählen und diese ein Dreivierteljahr lang intensiv bei der Realisierung ihres künstlerischen Projekts zu begleiten und zu unterstützen. Die Entscheidungen werden in den nächsten Tagen bekannt gegeben. Und das fertige Ergebnis wird dann im März 2023 auf dem „Forecast Festival“ im Radialsystem Berlin vorgestellt.
Was aber ist Forecast genau? Forecast ist ein mentorenbasiertes Programm für Wissenstransfer, das international und interdisziplinär angelegt ist. Es hat sich zum Ziel gesetzt, Kulturproduzent:innen aus den Bereichen Bildende Kunst, Architektur, Design, Musik, Tanz, Videokunst, Kuration, Theorie und neuerdings auch Journalismus und Unterhaltung mit anerkannten und etablierten Mentor:innen in Kontakt zu bringen.
Forecast (zu deutsch etwa: Vorhersage, Ausblick, Prognose) fördert jedes Jahr sechs innovative Projekte mit einem Fokus auf der Schnittstelle zwischen Kunst und Wissenschaft. Ziel der Plattform ist es, Talenten einen Schub zu geben, um ihre Karriere weiter aufzubauen. Gleichzeitig wird ihnen der Zugang zu Netzwerken, Residencies, Stipendien, Projektförderungen u.a. durch staatliche Institutionen aber auch öffentliche oder private Stiftungen vermittelt. Die Förderung wird auf jeden Teilnehmer individuell zugeschnitten. Außerdem werden Räume, technisches Equipment und bei Bedarf Techniker zur Verfügung gestellt.
Gegründet wurde Forecast 2015 von Freo Majer, der bis heute auch Künstlerischer Direktor der Plattform ist. Majer wurde 1968 in Heidelberg geboren. Im Anschluss an ein Studium der Literatur- und Theaterwissenschaft an der FU Berlin, absolvierte er ab 1993 ein Regiestudium bei Ruth Berghaus und Peter Konwitschny an der Eisler Musikhochschule in Berlin. Anschließend sammelte er Erfahrungen an verschiedenen europäischen Theatern und Opernhäusern u.a. in Mainz, Luzern und Bremen sowie bei Festivals wie zum Beispiel dem Theater der Welt. Im Rahmen dieser Tätigkeiten sah er sich immer wieder mit Defiziten bei der Unterstützung von Kulturproduzent:innen konfrontiert. Diese Erfahrung führte schließlich 2015 zur Gründung von Forecast.
In einem Interview mit dem Deutschlandfunk beschrieb Freo Majer die Kernidee des Projekts 2017 folgendermaßen: „Innovation braucht eigentlich erst mal eine Freiheit, dass man keine Bedingungen stellt, keine Ergebnisse vorwegnimmt, sondern total dem Schöpfer, der Schöpferin zugesteht, das selber zu entwickeln und zu erfinden. Und auf der anderen Seite aber einen Rahmen, ein Framework, das Sicherheit gibt, also Strukturen, das Mentoring, das wir geben, auch Beratung, Räume, Wahrnehmbarkeit – und letzten Endes ist es immer Geld. Das ist keine große Zauberei, aber erfordert natürlich den Mut, zu sagen: Wir trauen Dir das zu und mach das, was Du machen willst.“
Unter einem Mentor oder einer Mentorin versteht man eine erfahrene Person, die ihr Fachwissen, aber auch ihre Erfahrungen und persönlichen Kontakte mit einer unerfahrenen Person, dem Mentee oder Protegé, teilt. Zurück geht die Bezeichnung auf eine Figur der griechischen Mythologie: Odysseus übertrug einem Freund namens Mentor die Erziehung seines Sohnes Telemachos. Das Mentoring dient also der Ausbildung, Karriere- und Persönlichkeitsentwicklung. Bekannte Mentoren der Vergangenheit bei Forecast waren u.a. Tulga Beyerle, Omer Fast, Hou Hanru, Jürgen Mayer H., Bjørn Melhus und Candice Breitz.
Das in Art und Umfang einzige vergleichbare Mentoring Programm weltweit stellt die „Rolex Initiative“ dar, ein seit 2002 von dem Schweizer Uhrenhersteller finanziertes Projekt, das alle zwei Jahre ebenfalls Bewerber:innen aus den Bereichen Tanz, Film, Literatur, Musik, Theater, Bildende Kunst und Architektur sowie einer offenen interdisziplinären Kategorie mit herausragenden Künstler:innen zusammenbringt. Hier handelt es sich jedoch um das Kulturengagement eines global operierenden Unternehmens, welches mit weltberühmten Stars wie Martin Scorcese, David Hockney, Toni Morrison oder aktuell Spike Lee als Mentor:innen durchaus auch in der Werbestrategie des Konzerns eine zentrale Rolle spielt. Dass Forecast, maßgeblich finanziert mit öffentlichen Geldern, grenz- und genreüberschreitende Projekte aus aller Welt großzügig fördert, spricht für das nach wie vor sehr weltoffene Förderklima des deutschen Kulturbetriebs.
Mittlerweile haben sich alle sechs Mentor:innen für jeweils einen Projektvorschlag entschieden, welchen sie bis zu seiner endgültigen Realisierung begleiten werden.
Die Entscheidungen im Einzelnen:
Ana Prvački wird mit Mia Štark zusammenarbeiten. „Wir sprechen dieselbe Sprache und stammen beide aus dem soziopolitischen Kontext des früheren Jugoslawien, außerdem haben wir beide einen Sinn für Humor und Spiel. Daher bin ich sehr zuversichtlich, dass ich ihre weitere Entwicklung sehr nachhaltig unterstützen und nach außen kommunizieren kann.“
Daliso Chaponda wiederum hat sich für Hamza Baig entschieden. „Wir teilen ein ähnliches künstlerisches Ethos. Wir wollen gleichzeitig unterhaltsam sein, aber auch Elemente unserer Kultur mit anderen teilen. Ich denke, die Zusammenarbeit wird uns beide bereichern.“
Florentina Holzinger wird Tom Cassani unterstützen. „Was mir besonders an ihm gefällt, ist die Kombination aus einem sehr analytischen und anatomischen Ansatz, der dann wiederum mit mysteriösen und trügerischen Elementen zusammengeführt wird, um ein nahezu mystisches Erlebnis für ein denkendes Publikum zu kreieren.“
Rully Shabara wählte Peny Chan als Mentee aus. „Peny Chan lässt sich von den Gesangstechniken und -stilen der Pekingoper inspirieren, um ein viel moderneres Stück zu kreieren, welches viel besser zu dem von ihr bereits eingeschlagenen Weg als experimentelle Solo-Vokalistin passt.“
Laura Huertas Millán freut sich auf die Zusammenarbeit mit Luciana Decker Orozco. „Indem sie mit Vorstellungen von erweiterten Verwandtschaftsbeziehungen, Indigenität, Mestizität und Antikolonialismus arbeitet, wirft Orozco entscheidende Fragen nach der Souveränität, der ökologischen Nachhaltigkeit, des politischen Widerstands und des „Worldmaking“ in einem Kontext auf, der von Ungleichheit und Gewalt geprägt ist.“
Alia Ibrahim schließlich hat sich für das Projekt von Alexis Guillier entschieden. „Meine Entscheidung für Alexis Guilliers Projekt wurde durch meine persönliche Neugier getrieben, Zugang zu einer faszinierenden Welt zu erhalten, in der Themen, welche auch für mich äußerst wichtig sind, aus einer mir ganz neuen Perspektive betrachtet werden.“ Zudem sei sie von der faszinierenden Spannbreite im Werk des Künstlers beeindruckt, die sich zwischen den Polen „global und hyperlokal, glatter Vordergründigkeit und Film Noir, Nostalgie und Zeitgenossenschaft“ bewege.
Die dann realisierten Projekte der sechs Finalist:innen werden während des Forecast Festivals am 17. und 18. März 2023 im Berliner Radialsystem vorgestellt.
Forecast Festival Edition 7: 13. bis 18. März 2023: Sechs neu realisierte Projekte werden im Radialsystem Berlin vorgestellt.