Saisonauftakt am Ende des Sommers: Die Kunstmesse Art-o-rama in Marseille weiß einmal mehr als Entdeckermesse mit internationaler Beteiligung zu überzeugen
Haben Sie Schecki gesehen? Gleich mehrmals auf der diesjährigen Ausgabe der Kunstmesse Art-o-rama in Marseille begegnen den Besucher:innen Aushänge, auf welchen nach einem entflogenen Vogel gesucht wird. Schecki, so steht es dort, sei sehr zutraulich, wer ihn finde, solle bitte die weiter unten angegebene Telefonnummer anrufen. Bei dem abgebildeten Vogel jedoch handelt es sich nicht etwa um einen Wellensittich oder Kanarienvogel, sondern um einen ausgewachsenen Jagdfalken.
Der merkwürdige Zettel entpuppt sich am Ende als ein Element einer konzeptuellen Arbeit des in Berlin lebenden US-Künstlers Jason Dodge, Jahrgang 1969. Die Arbeit mit dem Titel „They lifted me into the sun again and packed my skull with cinnamon“ (2019) wird von der Pariser Galerie Gilles Drouault angeboten, und sie besteht aus mehreren Teilen. Wer sie erwirbt, erhält eine Reihe spezifischer Objekte, darunter zwanzig Werbeplakate für Aspirintabletten, eine Tüte mit Ringelblumenblüten, Batterien, Gabeln und Textilien sowie einen Einkaufszettel. Abhängig vom Wohnort des Erwerbers, gilt es nun, eine aus dem Kunstbetrieb stammende Person zu finden, die die Produkte auf dem Einkaufszettel erwirbt und zusammen mit den anderen Elementen als Ausstellung realisiert. Die für vielerlei Interpretationen und ihre variantenreiche Ausführung offene Arbeit können mutige Sammler:innen für 12.000 Euro erwerben. Inspiriert zu dem Werk wurde Jason Dodge übrigens durch einen ganz banalen Einkaufszettel, den er in Berlin auf der Straße gefunden hat.
Gilles Drouault gehört zu den 47 Galerist:innen aus 18 Ländern, die an der diesjährigen Art-o-rama teilnehmen. In diesem Jahr sind vermehrt Galerien aus osteuropäischen Ländern wie der Slowakei, Estland oder Rumänien nach Marseille gekommen, aber auch fünf österreichische Galerien, vier Teilnehmer aus den USA, italienische, spanische und britische Adressen. Hinzu kommt die Edition Art & Design Section mit 41 Editeuren aus Frankreich und anderen europäischen Ländern. In diesem Jahr öffnet sich der Editionssektor erstmals auch für stärker designorientierte Positionen. Über die Dauer der Messe hinaus steht mit The Immaterial Salon auch eine Online-Plattform für digitale Kunst zur Verfügung.
Sowohl der Editionsbereich als auch die Sektionen Conversations und Films wurden in andere Räumlichkeiten innerhalb des weiträumigen Kulturzentrums Friche la Belle de Mai ausgelagert, so dass mehr Platz für die Galeriestände zur Verfügung steht. Mit 3.000 Euro für 35 Quadratmeter sind die Standgebühren im Vergleich zu anderen Messen verhältnismäßig günstig. Dies ermöglicht auch vielen Erstteilnehmenden den Zugang zur Art-o-rama, die als wichtige Entdeckermesse gilt.
Allein 22 Galerien stellen in diesem Jahr erstmals auf der Messe aus. Traditionellerweise findet sie am letzten französischen Ferienwochenende statt und markiert den Abschied vom Sommer und den Auftakt der Herbstsaison. Neben wichtigen französischen Sammler:innen wie dem in Marseille beheimateten Ehepaar Josée und Marc Gensollen besuchen auch zahlreiche ausländische Sammler:innen die Messe, darunter etwa die beiden Brüsseler Top-Sammler Alain Servais und Frédéric de Goldschmidt.
Sammler:innen eher konzeptuell unterfütterter Kunst sind auch bei der amerikanischen Galerie Good Weather mit Standorten in Chicago und North Little Rock an der richtigen Adresse. Präsentiert werden hier die Arbeiten zweier Künstler ganz unterschiedlicher Generationen: Jerry Phillips, Jahrgang 1958, ist mit kleinformatigen Graphitzeichnungen vertreten, die auf den ersten Blick wie unscharfe Schwarz-Weiß-Abzüge aus dem Fotolabor wirken. Phillips versteht sich selbst als Sammler von existierenden Bildern, deren Essenz er auf seinen bemerkenswerten Zeichnungen herausarbeitet und mit magischer Energie auflädt.
Hunter Foster, Jahrgang 1993, präsentiert sozusagen dekonstruierte und in skulpturale Objekte überführte Malerei. Bemalte Leinwände zerschneidet er in schmale Stoffstreifen, die er dann um einen runden Holzkern herum zu kreisförmigen Wandobjekten mit wiederkehrenden geometrischen Mustern aufwickelt. Die Arbeiten der beiden miteinander befreundeten Künstler werden auf und hinter rasterförmigen Gestellen aus baumarkttypischen Plastikrohren gezeigt, was ihnen eine zusätzliche Verortung im Feld konzeptueller Kunst verleiht (Zeichnungen: 3.000 US$, Wandobjekte: 2.000 US$).
Ebenfalls aus den USA angereist ist die Galerie Grant Wahlquist aus Portland, Maine. Ein Eyecatcher am Stand ist die sechsteilige Videoarbeit der in San Francisco beheimateten Künstlerin Jennifer Locke, Jahrgang 1969. In ihrer Praxis verbindet sie die Medien Performance, Video, Installation und Fotografie. In der Arbeit mit dem Titel „Spells (Power Cord, Candle, Ball, Mirror, Hand of Glory, Salt)“ ist die Künstlerin in einen weißen Overall gekleidet und mit streng zurückgekämmten Haaren bei verschiedenen Aktionen zu sehen. Einmal erforscht sie eine Fotokamera mit einem über-dimensionalen Spiegel, dann wiederum hält sie einen mit einer brennenden Flüssigkeit benetzten schwarzen Arbeitshandschuh in die Kamera, oder sie lässt einen roten Ball auf ihrer Handfläche nach oben und unten hüpfen.
In der Arbeit mischen sich medienkritische Ansätze, eine Begeisterung für physikalische Phänomene mit subtilen Anspielungen auf okkulte Praktiken. Die zwischen wenigen Sekunden und einer Minute dauernden Sequenzen versetzen die Betrachtenden in einen diffusen Zustand zwischen Hypnose und dezenter Beunruhigung.
Gleich eine Reihe ganz unterschiedlicher Arbeiten des häufig in der Pose des Naturforschers oder Archäologen tätigen New Yorker Künstlers Mark Dion, Jahrgang 1961, hat die Galerie In Situ Fabienne Leclerc aus Grand Paris im Angebot. Einer der Eyecatcher am Stand ist die Arbeit „Ursus maritimus“ (2021). Auf einer gedrechselten Holzsäule steht eine altertümliche Zink wanne, die mit allerlei zivilisatorischem Kleinkram vom Flohmarkt gefüllt ist. Darauf thront die Keramikskulptur eines Eisbären, der ganz offenbar sein natürliches Habitat durch die Vermüllung der Meere mit Zivilisationsabfällen verloren hat.
Ebenfalls im Angebot ist die humorvolle Zeichnung „The Decadents“ (2013-19), die Größen der Kunst- und Geistesgeschichte wie Oscar Wilde, Paul Verlaine oder Odilon Redon als „komische Vögel“ mit besonders ausgeprägten Schnabelformen porträtiert, sowie eine sehr charmante, kleine Wunderkammerinstallation in einem alten Medizinschränkchen mit dem Titel „The Medecine Cabinet of Mystery“. (Eisbär: 35.000 Euro, Zeichnung: 6.000 Euro, Kabinett: 37.000 Euro).
Der Themenkomplex Kunst und Natur sowie Aspekte der Umwelt und ihrer zunehmenden Verschmutzung werden von zahlreichen auf der Art-o-rama präsentierten Künster:innen aufgegriffen. Der in Marseille lebende französische Künstler Ugo Schiavi, Jahrgang 1987, etwa wird von der in Marseille und Paris ansässigen Galerie Double V in einer Einzelpräsentation gezeigt. Die aus Kunstharz bestehenden Skulpturen aus seiner Gorgone-Serie erinnern auf den ersten Blick an farbprächtige Korallen oder andere Unterwasserlebewesen. Bei genauerer Betrachtung jedoch entdeckt man die vielfältigen Einflüsse des Anthropozän und der Industrialisierung. Eingeschlossen in die Arbeiten finden sich natürliche Muscheln und Seeschnecken, aber auch die unterschiedlichsten vom Menschen gemachten Materialien wie Kabelreste, vom Salzwasser verwitterte Badeschuhe oder mit Schlamm verkrustete Plastikrohre. Die farbintensiven Objekte verführen zum Hinschauen, gleichzeitig erschüttern sie aber aufgrund ihrer dystopischen Botschaften den Betrachter:innenblick.
Ugo Schiavi wird übrigens auf der in zwei Wochen beginnenden 16. Lyon Biennale mit einer monumentalen Installation im Museum für Naturgeschichte prominent vertreten sein. Außerdem wird eine weitere Arbeit von ihm im Rahmen des Site Sectors der Paris+ par Art Basel im Jardin des Tuileries im Oktober zu sehen sein.
Auf großes Publikumsinteresse stoßen auch die Miniaturskulpturen des 1983 geborenen französischen Künstlers Théo Massoulier. Am Stand der Brüsseler Galerie Meessen De Clercq zeigt er unter dem Titel „Anthropic Combinations of Entropic Elements“ hybride Objekte aus klinisch sauberem Computerschrott, Mineralien und Pflanzenteilen, die die Betrachter:innen an kleine Raumschiffe oder an die aus einer nahen Zukunft stammenden Hervorbringungen biotechnischer Labore denken lassen. Die in ihrer Präzision an japanische Blumenarrangements erinnernden Chimären aus Natur und Technik werden in weißen Boxen mit integrierter LED-Beleuchtung präsentiert (je 4.400 Euro).
Wie bereits eingangs erwähnt, spielt auch osteuropäische Kunst auf der diesjährigen Art-o-rama eine große Rolle. So präsentiert die rumänische Galerie Gaep aus Bukarest eine Reihe großformatiger Collagen des 1977 in Zagreb geborenen kroatischen Künstlers Damir Očko. Alle Werke dieser Serie setzen sich auf ebenso humorvolle wie ernsthafte Art und Weise mit den unterschiedlichsten Phobien des Menschen auseinander. Die wissenschaftlichen Namen jedoch überführt Očko in rätselhafte Anagramme. So wird etwa aus der Scoptophobia, der übertriebenen Angst, angestarrt zu werden, der Bildtitel „Basic Photo Op“.
Mit einem bunten Materialmix aus Gouachetechniken, Metallfolie, Filz, Glitter, künstlichem Gras, Textilien und fotografischen Elementen stellt sich Damir Očko auf diesen Collagen seinen eigenen Ängsten. Gleichzeitig überführt er diese aber in einen mit nonchalenten Drag-Elementen angereicherten Zustand der Entropie. Angeregt zu dieser Arbeit wurde er sowohl durch die Einsamkeit während der Pandemie als auch durch ein Erdbeben im Jahr 2020, welches sein Studio in der Altstadt von Zagreb zerstört hat (Collagen: je 6.000 Euro). Ebenfalls im Angebot bei Gaep: Damir Očkos kleine Skulpturen in bunt dekorierten Cocktailgläsern, die ihre Inspiration ebenfalls der Ästhetik des Drag verdanken, für je 900 Euro.
Ebenfalls osteuropäische Wurzeln hat der Maler Edin Zenun, Jahrgang 1987. Der in Skopje im heutigen Nordmazedonien geborene Daniel Richter-Schüler ist bereits als Kind nach Österreich gekommen und lebt heute in Wien. Die Wiener Galerie Zeller Van Almsick zeigt von ihm durchweg kleinformatige Ölgemälde in Art Nouveau-Ästhetik. Zenun nimmt sowohl Graffiti-Elemente als auch obskure Zeichen sowie Anleihen aus der Natur in seine zwischen Abstraktion und Figuration oszillierende Malerei auf. Edin Zenun setzt sich sowohl mit dem Verhältnis von Form und Farbe als auch mit anderen Grundfragen der Malerei, ihrer Materialien und ihrer Wahrnehmung auseinander. Die ungewöhnliche Grundierung der Leinwände mit in Wasser aufgelöstem Ton und die Verwendung selbst hergestellter Farben verleihen den Bildern eine angenehme Form des Understatement, die sie aus der Masse nach Aufmerksamkeit heischender „Here-I-am-Paintings“ hervorstechen lassen. Cornelis Van Almsick beobachtet ein großes Interesse an Zenuns Bildern insbesondere bei Kurator:innen und anderen Künstler:innen (je 1.800 Euro).
Zu den regelmäßig auf der Art-o-rama vertretenen Galerist:innen gehört auch die Wienerin Sophie Tappeiner, die mit der 1979 in Stuttgart geborenen Liesl Raff eine ebenfalls in der österreichischen Hauptstadt lebende Künstlerin präsentiert. Die imposant in den Raum hineinragenden Wandobjekte der Monica Bonvicini-Schülerin bewegen sich zwischen Skulptur und Malerei. Sie bestehen aus gegossenen, mit Pigmenten eingefärbten, robusten Latexschnüren, die um eine Wandhalterung herumgewickelt sind, welche aus einem dicken Bambusrohr besteht. Reste von Kordeln, die ursprünglich dafür benutzt wurden, die Latexbänder aus ihren metallenen Gussformen zu holen, hängen lässig von den Enden herab. Anhaftungen von Farbresten, Kerben, Risse, Schrunden und porenartige Löcher verleihen den Schnüren etwas Individuelles. Mit etwas Fantasie erinnern die Ensembles auch an aufgehängtes Zaumzeug in einem Pferdestall oder einer Reithalle. Die haptisch wirkenden Arbeiten sind mit „Loop 1-6“ betitelt (je 4.400 Euro).
Die im belgischen Gent beheimatete Galerie Tatjana Pieters hat gleich vier Künstler:innen mit nach Marseille gebracht. Allen gemeinsam ist, dass sie in ihrer Praxis die traditionellen Gattungsgrenzen zwischen Malerei und Skulptur auf den Prüfstand stellen. Die Niederländerin Anneke Eussen, Jahrgang 1978, zum Beispiel benutzt dem Alltag entnommene, gebrauchte Materialien wie etwa eingefärbte Glasscheiben, um diese in reduktiv-elegante, neue Settings zu überführen. Es entstehen sorgfältig ausbalancierte Werke zwischen Spurensicherung und kunsthistorischen Anspielungen auf den Konstruktivismus (1.100-9.800 Euro).
Sehr ungewöhnlich auch die Arbeiten des Briten Ben Edmunds, Jahrgang 1994, der sich der Material- und Markenästhetik von High Tech-Sportarten wie Segeln, Windsurfen und Fahrradrennsport bedient, um diese mit seiner abstrakten Malerei zu kombinieren (3.000-11.000 Euro).
Der Münchner Galerist Nir Altman, der als einziger deutscher Aussteller im Hauptsektor der Art-o-rama vertreten ist, schließlich setzt bei seiner Messepräsentation ganz auf jüngere französische Positionen, die bislang nicht zu seinem festen Künstler:innenstamm zählten. Unter dem Titel „Joy Stick“ setzt er Arbeiten der 1996 in Paris geborenen und in Marseille lebenden und arbeitenden Künstlerin Neïla Czermak Ichti und des Pariser Künstlers Tarek Lakhrissi, Jahrgang 1992, miteinander in Dialog. Ein verbindendes Element zwischen den beiden Künstler:innen ist das Spiel mit dem Diabolischen. Die schweren Wandreliefs aus Glas von Tarek Lakhrissi evozieren einen breiten Interpretationsraum voller Bezüge zu Feldern wie Intimität, Queerness, Blackness und der suggestiven Macht des Dämonischen (6.000-8.000 Euro).
Die vielfach autobiografisch aufgeladene, signalfarbene Acrylmalerei von Neïla Czermak Ichti hingegen bedient sich diverser subkultureller Chiffren (3.000-5.000 Euro). Für Nir Altman repräsentiert ihr offener Umgang mit dem eigenen Umfeld und den Herausforderungen ihres Lebens als junge, künstlerisch arbeitende Frau und Mitglied der arabisch-stämmigen Community so etwas wie den typischen „Marseille Style“, eine augenfällige Mischung aus Bohème, queer-feministischem Underground-Chic und gesundem Selbstbewusstsein.
Wer mehr davon sehen möchte, dem sei etwa der Besuch der während der Art-o-rama eröffneten Ausstellung „Habitacles“ auf der fünften Etage der Friche la Belle de Mai mit 37 Diplomand:innen der Kunsthochschule Beaux-Arts de Marseille empfohlen (noch bis 16.10.2022). Ebenfalls zum inspirierenden Bummel durch die Kunstszene der Stadt laden kuratierte Räume wie Atelier Panthera, SISSI Club, SOMA oder der erst kürzlich von den beiden deutschen Kuratoren Stefan Kalmár und Raoul Klooker gegründete neue Kunstverein OCT0 ein. Marseille bietet sich also auch außerhalb der Messe immer für einen Kunsttrip an.
Wie erst am Sonntagabend bekannt wurde, wurde die eingangs beschriebene Arbeit von Jason Dodge am Stand von Gilles Drouault mit dem Roger Pailhas Prize für das beste kuratorische Projekt ausgezeichnet. Der Preis ist nach dem berühmten, im Jahr 2005 im Alter von nur 56 Jahren verstorbenen Marseiller Galeristen Roger Pailhas benannt, dessen ungewöhnlich gestaltete Messestände immer wieder international für Aufsehen sorgten.
Auf einen Blick:
Messe: Art-o-rama. International contemporary art fair
Ort: Friche la Belle de Mai, Marseille
Internet: www.art-o-rama.fr
www.immateriel.art-o-rama.fr (bis 2. Oktober 2022)
www.facebook.com/atelier.panthera
Nächster Termin der Art-o-rama: 24.-27. August 2023