Der als internationaler Newcomer gefeierte junge New Yorker Maler Anthony Cudahy hat sich für seine erste museale Einzelausstellung in Europa ein ebenso ungewöhnliches wie überzeugendes Konzept ausgedacht: Im Musée des Beaux-Arts de Dole im französischen Jura tritt er in einen Dialog mit den verschmähten und missachteten Bildern der Sammlung
Sie kommen überwiegend ohne Goldrahmen daher, haben deutlich sichtbare Runzeln und Risse im Farbauftrag oder sind sogar über und über mit transparenten Pflastern überklebt, um sie notdürftig vor weiteren Beschädigungen zu schützen. Die meisten von ihnen tragen noch nicht einmal eine Signatur. Falls doch, handelt es sich um unbekannte oder vollkommen in Vergessenheit geratene Namen. Kurzum, die Bilder, die der junge New Yorker Maler Anthony Cudahy jetzt aus dem Depot des Musée des Beaux-Arts in Dole hervorgezogen hat, um mit ihnen im Rahmen seiner Ausstellung „Conversation“ in einen malerischen Dialog zu treten, gehören eher zu den Kellerkindern als zu den Stars des 1821 gegründeten Museums im französischen Jura, das durchaus mit illustren Namen aus der französischen, italienischen und niederländisch-flämischen Malereigeschichte aufwarten kann.
Für seine erste institutionelle Einzelausstellung in Europa ist Anthony Cudahy tief in die Lagerbestände des Hauses hinabgestiegen. Er hat längst vergessene Gemälde ans Tageslicht hervorgezogen und vom Staub der Jahrzehnte befreit. Ebenso hat er ganz unten in Schubladen voller Zeichnungen gestöbert. Die unumstrittenen „Meisterwerke“ hat er bewusst nicht beachtet. Cudahy interessierten die marginalisierten Stücke, diejenigen, die, aus welchem Grund auch immer, nicht so recht ins Schema traditioneller Museumsarbeit passen. Sei es aufgrund ihres prekären Zustands, ihrer angeblichen Mittelmäßigkeit, fehlender Zuschreibungen oder anderer Ausschlusskriterien. Damit hat er einen unorthodoxen Zugang zur Sammlung gefunden, der Kunsthistoriker:innen oder Kurator:innen eher verwehrt ist, da von ihnen erwartet wird, dass sie mit ganz anderen, in der Regel wissenschaftlich unterfütterten Kriterien an die Bestände einer Sammlung herangehen.
Cudahys von solcherlei Restriktionen freier Blick hat nun etliche erstaunliche und durchaus beachtenswerte Fundstücke aus der Dunkelheit befreit. Er präsentiert diese nun in dialogischen Hängungen mit seinen eigenen Bildern. Dabei greift er sowohl auf bereits existierende als auch ganz neu für die Ausstellung entstandene eigene Werke zurück.
„Die Einladung des Museums deckte sich sehr gut mit meiner Praxis, die Referenzen, Zitate und Dialoge mit einbezieht. Malerei ist ein selbstreferenzielles Medium“, so Cudahy, dessen Kunst sich aus so unterschiedlichen Referenzsystemen wie privaten Archiven, westlicher Malereigeschichte und Kunst im queeren Kontext speist.
Architektur, Landschaften, Interieurs, Stillleben, Mensch und Natur, Badende oder intime Einblicke in Künstlerateliers: Anthony Cudahys Ausstellung gliedert sich in eine ganze Reihe thematisch unterschiedlich aufgefasster Räume. Oft entwickelt er Zusammenstellungen aus atmosphärischen Verwandtschaften, der malerischen Darstellung menschlicher Verhaltensweisen, Befindlichkeiten oder Lebensäußerungen, die über die Jahrhunderte konstant bleiben und sowohl in den gefundenen als auch in den eigenen Bildern aufscheinen. Zudem interessiert ihn die Zeitlosigkeit menschlicher Gesten, Posen und Physiognomien. Im historischen Bildfundus des Museums entdeckte er Allegorien der Liebe, des Schmerzes, des Ruhms, der Zeit und der Vergänglichkeit, in deren Zentrum teilweise an ihrem eigenen Talent zweifelnde Künstlerpersönlichkeiten stehen. Cudahy kombiniert diese mit Bildern von lebenden Künstlerfreunden und -freundinnen aus seiner New Yorker Community in deren Ateliers.
So etwa auf dem 2023 entstandenen Gemälde „The Sculptor (Jenna Beasley)“, das die befreundete New Yorker Bildhauerin inmitten von Fundstücken aus der Natur, an die Wand gepinnten Illustrationen und einem aufgeschlagenen Bildband sitzend in ihrem Studio zeigt. In ihren Händen hält sie einen großen gelben Seestern, mithin ein geheimnisvolles Meereslebewesen, das sich durch ungeschlechtliche Vermehrung quasi immer wieder selbst hervorbringt – also bestens als Allegorie der Unsterblichkeit taugt.
In einigen Werken zitiert und bearbeitet Anthony Cudahy einzelne markante Elemente aus den Bildern der Sammlung. Gleich im ersten Raum der Ausstellung ist es allerdings kein Gemälde sondern eine ikonische, aus dem 16. Jahrhundert stammende, mit zahlreichen Schnitzereien versehene Tür des ehemaligen Parlaments von Dole, die seine Aufmerksamkeit erregt hat. Den auf dem Türblatt als heroisches Wappentier mit Krone dargestellten Löwen überführt Cudahy auf seinem atelierfrischen, kleinformatigen Bild „Red Lion“ (2023) in ein eher bedauernswertes Geschöpf, das offenbar seinen Halt verloren hat und nach links aus dem Bildrand zu kippen droht. Das Ganze ausgeführt in stark pastos aufgetragener Ölfarbe in überwiegend schwülstig-erdfarbenen Tönen, jedoch mit einem Akzent in nahezu fluoreszierendem Neon-Rosa. Ironische beziehungsweise persiflierende Untertöne sind hier, wie auch in anderen Arbeiten, subtil in die Bilderzählung eingewebt. Dieses kleine Gemälde kann auch als prototypisches Beispiel für Cudahys Strategie des Bildaufbaus herangezogen werden. Seine Protagonist:innen positioniert er gerne am Rande der Bildabgrenzungen, um die Bilder so wie Wirklichkeits- oder Filmausschnitte wirken zu lassen und die Betrachter:innen aktiv in das Bildgeschehen hineinzuholen.
In einem anderen Raum ist es eine noch von der Leichenstarre gebogene Makrele mit den Einkerbungen einer Messerklinge, die er einem anonymen Stillleben des 17. Jahrhunderts entnimmt und als irritierendes Detail in das Bildnis einer aus der Gegenwart stammenden jungen Mutter mit ihrem kleinen Sohn auf dem Schoß integriert. Neben allegorischen Szenen sind es insbesondere auch Bilder mit magischen oder okkulten Inhalten, die Cudahys Interesse wecken. So auch die „Scène de Sabbat“, ein anonymes Bild aus dem 17. Jahrhundert, voller drastischer, teils surreal anmutender Darstellungen des Alters, der Vergänglichkeit und der Folter.
Anthony Cudahy gilt als einer der vielversprechendsten amerikanischen Maler seiner Generation. Die von der Kunst-plattform Artsy alljährlich im Herbst veröffentlichte „Artsy Vanguard List“, die auf Nominierungen durch andere Künstler:innen, Sammler:innen, Kurator:innen, Galerist:innen und weiteren Kunstexpert:innen beruht, zählt ihn aktuell zu den 20 Top-Newcomern weltweit. Geboren 1989 in Fort Myers, Florida, studierte er zunächst am New Yorker Pratt Institute. Seinen Master-Abschluss machte er dann 2020 am dortigen Hunter College. Zusammen mit seinem Ehemann, dem Fotografen Ian Lewandowski, lebt und arbeitet er in Brooklyn, New York.
Cudahy gilt mit Recht als ein äußerst talentierter figurativer Maler und Colorist, dessen einfühlsame Porträts und Selbstbildnisse eher zurückgezogene Protagonist:innen in intimen Situationen mit romantischen Untertönen zeigen als übertrieben narrativ aufgeladene Szenen. Meist agieren seine Figuren in Innenräumen oder lediglich ausschnitthaft festgehaltener Natur, etwa auf einem kleinen Rasenstück oder einer blumenberankten Hauswand.
Cudahys Malerei zeichnet sich durch eine große Sensibilität aus, mit der er sich seinen Sujets nähert. Was seine Bilder offenbaren, sind Blicke ins Innere der Porträtierten. Häufig sind dies Freund:innen, Künstlerkolleg:innen, er selbst oder auch sein Ehemann, den er immer wieder bei der Arbeit mit der Großformatkamera zeigt.
„Ich habe im Laufe der Jahre mein eigenes Archiv zusammengestellt, indem ich Bilder sammle, sie mir anschaue und sie seit über einem Jahrzehnt immer wieder verwende. Sie kommen von überall her. Aus Gemälden unterschiedlichster Epochen, über Screenshots aus dem Internet, von Nachrichtenbildern bis hin zu Alltagsfotografien. Ich verwende auch bestimmte Archive. Letztes Jahr nutzten mein Mann Ian und ich das physische Archiv im Gay and Lesbian Center hier in New York“, charakterisierte Cudahy 2020 in einem Interview auf der Website der Londoner Galerie Mamoth seine Arbeitsweise.
Neben seinem Interesse an Alltagsbildern ist es aber immer wieder das schier endlose Bilderreservoir der globalen Kunstgeschichte, das ihn inspiriert und antreibt: von antiken Kachelbildern in Pompeji über Tapisseriemotive in Bayeux, niederländisch-flämische Meister wie Pieter Brueghel der Ältere und Hieronymus Bosch, über Caspar David Friedrich bis hin zu Francis Bacon oder David Hockney. In der Pose des letzteren stellt er sich auch auf dem „Self-portrait after Hockney ’83“ (2021) dar, welches jetzt Bestandteil der Ausstellung in Dole ist. Es zeigt Cudahy ganz ungeschönt mit bloßem Oberkörper, üppigem Brusthaar, Vollbart und runder Brille beim Zeichnen. Offenbar eine Szene aus dem Atelier, ist doch im Hintergrund neben einem weiteren mit der Vorderseite an die Wand gelehnten Bild auch das Gemälde „Conversation I“ (2021) zu sehen, das jetzt titelgebend für die Ausstellung in Dole ist.
Kunstgeschichte als sich selbst immer wieder neu hervorbringendes Kontinuum, der Wieder- und Neubetrachtung existierender Werke, des Zitierens, der Appropriation, der Reproduktion und idealerweise der Transformation in etwas Neues. Anthony Cudahy gelingt es in dieser Ausstellung, Vergangenheit und Gegenwart auf überzeugende Art und Weise miteinander ins Gespräch zu bringen. Im Zentrum seines Interesses steht dabei immer die Conditio humana, also die Grundbedingungen des Menschseins. Statt vermeintliche Gegensätze zu konstruieren, offenbart seine in Dole getroffene Auswahl das Verbindende zwischen Werken ganz unterschiedlicher Epochen – stammen sie nun von berühmten Künstler:innen oder gänzlich Unbekannten.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Anthony Cudahy – Conversation
Ort: Musée des Beaux-Arts de Dole, Frankreich
Zeit: bis 10. September 2023, Di-Sa 10-12 Uhr und 14-18 Uhr, So 14-18 Uhr, Mo geschlossen
Katalog: 208 S., französisch/englisch, 29 Euro, erscheint im Juni 2023
Tickets: Eintritt frei
Internet: www.sortiradole.fr
www.anthonycudahy.com
www.semiose.com
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