Die Sammlung Grässlin in St. Georgen im Schwarzwald lädt einmal mehr zur Neupräsentation ihrer umfangreichen Bestände ein. In der aktuellen Ausstellung steht ganz die Natur im Fokus
Der Abdruck einer menschlichen Hand, ein Hirscheber und ein Pustelschwein gehören zu den ältesten aus der Menschheitsgeschichte bekannten künstlerischen Darstellungen. Diese zwischen 40.000 und 45.000 Jahre alten Bilder befinden sich nicht etwa in europäischen Höhlen sondern in einem Höhlenkomplex auf der indonesischen Insel Sulawesi. 2017 wurden sie entdeckt und 2021 genauer datiert. Dem Eurozentrismus einer Kunstgeschichtsschreibung, die die ältesten bildlichen Darstellungen der Menschheit lange Zeit allzu selbstgewiss in den berühmten Höhlen Spaniens oder Südfrankreichs verortete, laufen diese jüngsten Entdeckungen jedenfalls deutlich zuwider. Warum dieser Exkurs?
„Painting Nature“, so lautet jetzt der Titel der jüngsten Sammlungspräsentation in den Räumen der Stiftung Grässlin in St. Georgen im Schwarzwald. Mit der Erinnerung an die Ursprünge jeglicher künstlerischen Tätigkeit im Hinterkopf, eröffnet sich also unter dieser Überschrift ein künstlerisches Feld, das geradezu menschheitsgeschichtliche Dimensionen eröffnet. Zugleich adressiert es ein angebliches Gegensatzpaar, das sich aber immer wieder aufs Neue begegnet. Diesen Gedanken formulierte bereits Johann Wolfgang von Goethe im Jahre 1800 so:
„Natur und Kunst, sie scheinen sich zu fliehen,
Und haben sich, eh‘ man es denkt, gefunden;
Der Widerwille ist auch mir verschwunden,
Und beide scheinen gleich mich anzuziehen.“
Gerade in Zeiten, in denen virtuelle Realitäten, Blockchain- und NFT-Kunstwerke sowie künstliche Intelligenzen offenbar ihren unaufhaltsamen, nur von einigen mahnenden Intellektuellen in Frage gestellten Siegeszug antreten, macht es daher absolut Sinn, einmal innezuhalten und sich auf die Natur und die vielfältigen Formen ihrer künstlerischen Darstellung zurückzubesinnen.
„Wir haben unsere Sammlung durchforstet nach dem Thema Natur“, sagt Karola Kraus, eine der drei Schwestern Grässlin, während sie eine Gruppe Besucher:innen durch einen der vielen, über den ganzen Ort verteilten Räume der Sammlung führt. Nach diversen leitenden Tätigkeiten, etwa am Kunstverein Braunschweig oder der Staatlichen Kunsthalle Baden-Baden, ist sie seit 2010 Direktorin des MUMOK in Wien. Das Kunstgen scheinen die Eltern Dieter und Anna Grässlin eindeutig an ihre Kinder vererbt zu haben. Auch Bärbel Grässlin, die in Frankfurt die gleichnamige Galerie betreibt, ist aus dem deutschen und internationalen Kunstbetrieb nicht wegzudenken.
Seit 1995 zeigt die Familie Grässlin Teile ihrer Sammlung in regelmäßig wechselnden Präsentationen in ihrer Heimatstadt St. Georgen. Angefangen hat alles mit dem Konzept „Räume für Kunst“, das darauf beruhte, dass die Familie unter anderem die Schaufenster leerstehender Ladenlokale im Ort mit Kunst bespielte und so eine breite Öffentlichkeit mit zeitgenössischen Positionen vertraut machte. Präsentationen in öffentlichen oder halböffentlichen Räumen wie Bankfilialen, dem Heimatmuseum, dem Bahnhofsgebäude oder im Sitzungssaal des Stadtrates ergänzten diese damals vielbeachtete innovative Ausstellungspraxis, die auch zahlreiche überregionale Besucher:innen in den Schwarzwald lockte. 2006 folgte dann die Eröffnung des KUNSTRAUM GRÄSSLIN, eines alle Anforderungen eines zeitgemäßen Ausstellungsbetriebs erfüllenden White Cube im Zentrum des Ortes. Ein weitläufiger Vorplatz bietet hier zudem ausreichend Aufstellungsfläche für raumgreifende skulpturale Arbeiten.
Das dazugehörige Restaurant „Kippys“ wiederum wurde von Sabine, der dritten Grässlin-Schwester, gegründet und bis Ende 2022 von ihr selbst betrieben. Mittlerweile ist es an einen italienischen Gastronomen verpachtet und trägt den Namen „Kippys by Carmine“. Sabine Grässlin, die unter anderem beim Sternekoch Eckart Witzigmann das Kochen gelernt hat, steht ihren beiden Schwestern in künstlerischer Expertise jedoch keineswegs nach. Sie repräsentiert die Familiensammlung sozusagen vor Ort, hat stets unmittelbaren Kontakt zu den Künstler:innen während der Aufbauphasen und kümmert sich um deren Wohlergehen. So auch immer wieder um Martin Kippenberger (1953-1997), einen engen Freund der Familie, der regelmäßig nach großstädtischen Exzessen zur Erholung zu den Grässlins in den Schwarzwald kam. Der Name „Kippys“ ist selbstverständlich als Verbeugung vor diesem Vertreter einer mitunter provokant-gesellschaftskritischen (Anti-)Malerei gemeint.
Doch zurück zur aktuellen Ausstellung, der mittlerweile 11. Sammlungspräsentation. Den Auftakt des Rundgangs bildete am Eröffnungswochenende ein Besuch im Elternhaus Grässlin, einem großzügig dimensionierten Bau in Hanglange. Gleich im Eingangsbereich empfängt eine Fotografie des amerikanischen Konzeptkünstlers Christopher Williams, Jahrgang 1956, die Besucher:innen. Sie zeigt zwei Kornähren, die eine gestochen scharf, die andere denkbar unscharf gehalten, vor strahlend blauem Hintergrund. Williams, der seine Aufnahmen haargenau konzipiert, dann aber von professionellen Werbefotograf:innen ausführen lässt, rekurriert hier auf Standards der hochglänzenden Produktfotografie, die er aber gleichzeitig entzaubert, indem er sie für so etwas Banales wie beispielsweise zwei Getreidehalme einsetzt.
Im einst als Schwimmbad errichteten Untergeschoss mit modernistisch-coolen Sichtbetonelementen und bodentiefen Panoramafenstern hat sich Sabine Grässlin eine loftartige Wohnung eingerichtet. Der weitläufige Raum bietet auf versetzten Ebenen jedoch auch genügend Platz für die Präsentation von Kunst. Passend zum Thema „Painting Nature“ sind hier etwa zwei großformatige Gemälde des österreichischen Malers Herbert Brandl, Jahrgang 1959, zu sehen. Vor schwarzem Fond zeigen sie blühende Pflanzen in unterschiedlichen Zuständen der Freiheit beziehungsweise der Bändigung durch traditionelle japanische Methoden der Kultivierung. Zu den längst auch schon andernorts gezeigten Klassikern der Sammlung Grässlin gehört zweifellos die von Tobias Rehberger, Jahrgang 1966, stammende Arbeit „Anna, Bärbel, Bernadette, Bernward, Christian, Cosima, Karola, Katharina, Rosanna, Rüdiger, Sabine, Thomas (1999/2009)“. Sie besteht aus einer Reihe von Designervasen, die jeweils auf einem weißen Sockel stehen. Gedacht als humorvolles Gruppenporträt der erweiterten Sammlerfamilie, repräsentiert jede Vase inklusive der darin enthaltenen Blumen eine Person. Konzept, Design, Natur und die persönliche Nähe Rehbergers zu den Porträtierten werden in dieser Installation ebenso poetisch wie ironisch auf den Punkt gebracht.
Weiter geht es zum KUNSTRAUM GRÄSSLIN, auf dessen Vorplatz zwei ganz neue Skulpturen der Kölner Künstlerin Cosima von Bonin, Jahrgang 1962, aufgestellt sind. Die beiden übermenschengroßen Pilze aus weiß bemaltem Beton bilden eine Arbeit mit dem Titel „Anna und Dieter“ und sind eindeutig als Hommage an die Eltern Grässlin zu verstehen. Während Dieter Grässlin schon 1976 verstorben ist, galt Anna Grässlin bis zu ihrem Tod im Jahre 2020 als die graue Eminenz der Familiensammlung, die sich seit ihren Anfängen mit Arbeiten des Informel immer zielstrebiger bis in die unmittelbare Gegenwart vorgearbeitet hat. Cosima von Bonin ist bereits seit Langem für ihre Pilzskulpturen bekannt. Die meisten jedoch sind textiler Natur. Ob aus Filzstoffen, aus Cord oder im Camouflage-Look, rekurrieren sie mit durchaus feministischen Subtönen auf tradierte weibliche Tätigkeiten wie das Nähen, aber ebenso auch auf die einigen Arten nachgesagte bewusstseinserweiternde Wirkung. Gleichzeitig stehen sie metaphorisch für das, was Cosima von Bonins künstlerische Praxis auszeichnet: Kooperationen mit anderen Künstler:innen und Kulturprozent:innen, das Einbeziehen ihrer Studierenden, das Knüpfen komplexer Netzwerke. Und genau dafür stehen ja auch die Pilzkörper. Ihr oberirdisches Erscheinen repräsentiert bekanntermaßen ja nur einen kleinen Bruchteil des unterirdisch wuchernden Mycels.
Im KUNSTRAUM selbst dominieren dann rein männliche Positionen. Jean Fautriers (1898-1964) früh in die Sammlung gelangtes kleinformatiges Gemälde „Allée d’arbres“ aus dem Jahr 1928 bildet hier gewissermaßen den Auftakt. Die Pole Formgebung und Formauflösung konstituieren hier bereits ein Spannungsfeld, das sich in vielen Arbeiten der Sammlung – vom Informel bis hin zu ganz aktuellen Positionen – wiederfinden lässt. So auch auf der Arbeit „Ohne Titel (Baum 62)“ von Albert Oehlen, Jahrgang 1954. Eine schwarze vertikale Form könnte als Baum gedeutet werden, doch was stellt das aus Farbstreifen in diversen Türkis- und Blautönen bestehende, leicht fratzenhaft wirkende Gebilde rechts davon dar? Bei Oehlen weiß man nie so genau. Er gilt als radikaler Verfechter des Malakts an sich, der sich auch gerne des Computers bedient, um seine Motive digital vorzuformulieren. Gegenstand seiner Bilder sind stets sie selbst – nicht so sehr das darauf vermeintlich Dargestellte. Dazu gesellt sich ein ganzer Fries von Schwarz-Weiß-Fotos aus dem Engadin, die ausnahmsweise nicht Bestandteil der Sammlung Grässlin sind, sondern dem Estate des zu Lebzeiten eng mit der Sammlerfamilie befreundeten Günther Förg (1952-2013) entliehen wurden.
Von Georg Baselitz, Jahrgang 1938, hingegen stammt ein großformatiges Gemälde mit dem Titel „Ein Hund kommt zu spät“ (2001). Zu sehen sind auf dem überwiegend in Rot, Schwarz, Weiß sowie Pink, Gelb und Violetttönen gehaltenen Bild zwei selbstverständlich auf dem Kopf stehende bunte Hunde, die allerdings aus der Ferne betrachtet auch an Palmengewächse mit kurzen Stämmen und hochaufragenden Wedeln erinnern. Von Reinhard Mucha, einem weiteren mit zahlreichen Hauptwerken vertretenen „Hauskünstler“ der Sammlung Grässlin, stammt die Arbeit „ABSK – St. Georgens randlose Säule“ (2020), die eindeutig als Hommage an Anna Grässlin und die Schwestern Bärbel, Sabine und Karola angelegt ist. Sie vereint die Schwarz-Weiß-Fotografie eines Waldbodens mit vier historischen Vinylschallplatten des Original Schwarzwaldtrios, einer kleinen Lautsprecherbox und einer Reihe weiterer Features. Während all diese Arbeiten an den Wänden hängen, wird der Boden des Ausstellungsraums von Martin Kippenbergers begehbarer Installation „Jetzt geh ich in den Birkenwald, denn meine Pillen wirken bald“ (1990) dominiert. Das waldartige Ensemble besteht aus etlichen „Birkenstämmen“, die allerdings nicht echt sind, sondern lediglich aus auf Röhren auftapezierten Birkenoberflächen bestehen. Auf dem Boden verstreut liegen überdimensionale Dragees und Schmerztabletten aus hellem Holz. Von wegen Waldidylle: Voraussetzung für das unbeschwerte Naturerleben scheint hier zunächst die Betäubung der Schmerzen durch Spalt und Alka Seltzer zu sein.
Weiter geht es in die benachbarte Bahnhofstraße 64a. Hier befinden sich die ehemaligen Produktionsgebäude des 1956 von Dieter Grässlin gegründeten Unternehmens für Zeitmesstechnik, das zwar weiterhin existiert, jedoch mittlerweile von der Familie veräußert wurde. Gleich im Erdgeschoss ist durch die großen Fenster einsehbar die Dauerinstallation „Rinde“ (2005) von Michael Beutler, Jahrgang 1976, zu sehen. Beutler ist dafür bekannt, aus Billigmaterialien, die er sich entweder im Baumarkt oder in der Natur besorgt, mit Hilfe selbst gebauter Apparaturen voluminöse, aber dysfunktionale Objekte zu produzieren. Er zwingt sich dabei zur Einhaltung extrem ökonomischer Prinzipien. Seine Vorgehensweise ist immer dieselbe: Innerhalb eines knapp bemessenen Zeitfensters konzipiert Beutler direkt vor Ort und in Interaktion mit den architektonischen Gegebenheiten des Ausstellungsraumes eine nach selbst aufgestellten »Spielregeln« umgesetzte Transformationsstrategie für den jeweiligen Ort, die dann zusammen mit Assistent:innen und ohne Publikum ausgeführt wird. In diesem Falle hat er lange Papprohre mit Stroh gefüllt und mit Aluminiumfolie umhüllt, so dass der Raum sich nach und nach mit diesen entfernt an überdimensionierte Zigaretten erinnernden Gebilden anfüllte.
In den oberen Etagen sind hier zahlreiche weitere künstlerische Arbeiten zu sehen, die sich auf ganz unterschiedliche Art und Weise mit dem Themenkomplex Kunst und Natur auseinandersetzen. So etwa die Gemälde von Günther Förg, die sich, ausgehend von Naturelementen, der Abstraktion zuwenden. Oder die Arbeit „The Library for the Birds of Antwerp“ aus dem Jahr 1993 von Mark Dion, in der sich der US-Künstler ursprünglich auf die Vogel-Voliere des Antwerpener Zoos bezieht. Er kreierte ein neues Zuhause für einige in einer Zoohandlung erworbene Finkenpaare, bestehend aus einem Bassin mit bemalten Kacheln, einem Baum, diversen Vogelbauern und Vogelkundebüchern sowie weiteren, teils skurrilen Utensilien. Damit schlüpft Mark Dion einmal mehr in die Rolle des Naturkundlers, nicht ohne Ironie und pseudo-wissenschaftliche Verweise.
Ein gerader Weg aus sorgsam angeordneten, gefundenen Steinen des britischen Land-Art-Künstlers Richard Long, Jahrgang 1945, führt wiederum schnurstracks auf ein Gemälde des Österreichers Heimo Zobernig, Jahrgang 1958, zu, das der gesamten Ausstellung den Titel gibt: „Painting Nature“. Es ist während der Corona-Pandemie entstanden, als Zobernig sich in die ländliche Umgebung von Kärnten zurückzog. Auf dem Gemälde setzt er sich nicht nur mit Landschaft und Natur auseinander. Es handelt sich, wie so oft bei ihm, auch um eine Befragung der Möglichkeiten und Grenzen des Mediums Malerei an sich.
Auch wenn die meisten der aktuell gezeigten Arbeiten der Sammlung Grässlin sich dem Thema Natur widmen, so lohnt es sich aber auch, noch einen Blick auf einige der Dauerinstallationen zu werfen. Unbedingt dazu gehören die „Brückenköpfe I und II“ (1991) von Franz West (1947-2012) in der Klosterbergstraße, eine Reihe von Großskulpturen von Meuser, Jahrgang 1947, im Stadtgarten, Martin Kippenbergers von den Skulptur Projekten Münster 1997 bekannter „Transportabler Lüftungsschacht“ auf einer Rasenfläche direkt hinter dem KUNSTRAUM GRÄSSLIN oder, um die Arbeit eines jüngeren Künstlers zu nennen, das „House of Flowers“ (2019) des Wiener Künstlers Julian Turner, Jahrgang 1985, in der Schalterhalle des Bahnhofs. In Form einer kritisch-ironischen Auseinandersetzung mit der kultartigen Verehrung und dem Personenkult, der dem jugoslawischen Staatspräsidenten Tito zu Lebzeiten zuteil wurde, hat Turner in einem ehemaligen Warteraum des Bahnhofs eine pseudohistorische Tito-Gedenkstätte voller selbstgebastelter Devotionalien und Erinnerungsstücke eingerichtet. Eine verkleinerte Replika des Sonderzuges, mit dem der luxusverliebte Kommunistenführer durch sein Reich zu reisen pflegte, ist ebenfalls zu sehen.
Die aktuelle Ausstellung „Painting Nature“, aber auch die Dauerinstallationen vielerorts im Stadtraum von St. Georgen unterstreichen einmal mehr den besonderen Charakter dieser über Jahrzehnte von dem kunstbegeisterten Familienverband aufgebauten Sammlung. Die Grässlins haben sich stets auf relativ wenige Künstler:innen konzentriert, von diesen aber ganz gezielt prägnante Werke und Werkserien erworben. Das freundschaftliche Miteinander, das sie mit vielen ihrer Künstler:innen bis heute pflegen, trägt dabei maßgeblich zur Qualität dieser Familienkollektion bei.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Painting Nature
Ort: Sammlung Grässlin, Museumstraße 2, 78112 St. Georgen
Zeit: voraussichtlich bis 27.4.2025. Führungen nach Vereinbarung
Katalog: Kurzführer, ca. 40 Seiten, zahlreiche Farbabb., 5 Euro
Internet: www.sammlung-graesslin.eu
Kontakt: info@sammlung-graesslin.eu
+49 7724 916 18 05