Hier dreht sich alles um den Klang: Die ebenso sensible wie politisch wache italienische Künstlerin Liliana Moro wird jetzt im Kunstmuseum Liechtenstein mit der bisher umfangreichsten Retrospektive ihrer Karriere gezeigt
„Meine Arbeiten sind nicht dazu gedacht, nur passiv betrachtet zu werden; du musst dich oft bücken, du musst hinhören, um sie herumgehen, nach oben schauen oder langsam über Glasscherben gehen.“ Mit diesen Worten beschreibt die 1961 in Mailand geborene italienische Künstlerin Liliana Moro einen Grundzug ihrer Kunstpraxis.
Das Kunstmuseum Liechtenstein zeigt jetzt unter dem Titel „Andante con moto“ die weltweit bislang größte Einzelausstellung der in Insiderkreisen bekannten, schon 1992 von Jan Hoet auf der documenta IX gezeigten, aber vom breiten Publikum noch weitgehend unentdeckten Künstlerin. Doch das soll sich jetzt ändern. Im Anschluss wird die Schau in leicht veränderter Form auch noch im PAC (Padiglione d’Arte Contemporanea) in Mailand sowie in der Magazzino Italian Art Foundation in Cold Spring, New York zu sehen sein. Zudem erscheint Anfang 2024 ein umfangreicher Katalog im Distanz Verlag. Schon der eine musikalische Vortragsbezeichnung zitierende Titel der Schau – er bedeutet auf Deutsch „gehend, mit kräftigem Vortrag“ – transportiert die Botschaft, dass Liliana Moro mit dieser Ausstellung in Zukunft eine größere Aufmerksamkeit für sich und ihr Werk reklamiert.
Arte Povera ist in der Sammlung des Kunstmuseums Liechtenstein ungewöhnlich stark vertreten. Insofern macht es für die aus Südtirol stammende, seit Sommer 2021 amtierende Direktorin Letizia Ragaglia durchaus Sinn, mit Liliana Moro eine Künstlerin sozusagen der Post-Arte-Povera zu präsentieren. Moro hat bei dem Arte-Povera-Vertreter Luciano Fabro (1936-2007) an der Mailänder Kunstakademie Brera studiert. In ihrer eigenen Praxis aber hat sie sich weitgehend von dieser kunsthistorischen Periode emanzipiert, die schon zu ihrer Studienzeit allmählich zum Abschluss kam. Nicht mehr die Anhäufung künstlerisch kaum bearbeiteten Rohmaterials, etwa in Form von Reisig, Holz, Kohle, gebrauchten Textilien oder Leinensäcken, sondern vielmehr alles, was mit dem Klang zu tun hat, steht bei ihr im Fokus. Seit Jahrzehnten schon arbeitet Moro am Aufbau eines umfangreichen Klangarchivs, das überwiegend aus analogen Tonbandaufnahmen besteht. Mit digitalen Medien dagegen tut sie sich bis heute schwer. Insbesondere in der aktuellen Ausstellung setzt sie den Klang als „immaterielles Material“ (Moro) ein. Das umfasst die menschliche Sprache ebenso wie Musik oder Alltagsgeräusche, wie sie etwa beim Gehen entstehen.
Die Arbeit mit dem auf ein absolutes Minimum reduzierten, nur aus zwei Anführungszeichen und der dazwischen herrschenden Leere bestehenden Titel “ “ (2001) liefert ein eindrückliches Beispiel für Moros Praxis, das still in sich Ruhende zum Ereignis werden zu lassen. Wollen die Besucher:innen die Ausstellung als geschlossenen Parcours ohne Umwege und Sackgassen erleben, so werden sie angesichts dieser Arbeit vor die Entscheidung gestellt, entweder weiter zu gehen oder umzudrehen. Ein Durchgangsraum, dessen Boden über und über mit transparenten Glasscherben bedeckt ist, lädt zum Durchschreiten ein. Damit verbunden ist jedoch die Herausforderung, mit sorgfältig gesetzten Schritten vorsichtig über die Scherben zu schreiten, weder sich noch andere zu verletzen und vielleicht auch das Material weitestgehend zu schonen. Was aber nicht unbedingt nötig wäre. Wie bei vielen ihrer Installationen benutzt Liliana Moro auch hier gebrauchte, leicht verfügbare Materialien, die dem Warenkreislauf von Rohstoffen und Industrieprodukten entnommen sind und diesem später wieder zugeführt werden können. Ob mit ruhigen Mahlgeräuschen, lautem Scheppern oder wildem Bersten: Jede und jeder Einzelne ist eingeladen, die Installation so zu durchschreiten, wie es dem eigenen Charakter oder der aktuellen Gemütslage entspricht. Eben, um in der Sprache der Musik zu bleiben, andante, pesante oder gar agitato.
Gleich am Eingang zur Ausstellung, beziehungsweise noch im Foyer des Museums, hat Liliana Moro die 2006 entstandene Neonarbeit „Ascolto“ installiert. Das fast zwei Meter hohe Werk zeigt ein stilisiertes, ganz in Blau gehaltenes menschliches Ohr. Der Titel, zu Deutsch: „Ich höre“, kann dabei als Aufforderung gelesen werden, sich beim Besuch der Schau insbesondere auf den Hörsinn zu konzentrieren. Noch ehe man die Treppe hinauf in die eigentliche Ausstellung ganz erklommen hat, erschallt dann, ausgelöst durch einen Bewegungsmelder, ein lauter Pfiff vom Band. Er stammt von der Künstlerin selbst, die dem Primat des Akustischen mit dieser kleinen Irritation noch einmal Nachdruck verleiht.
Das Publikum wird in dieser Ausstellung immer wieder zum Akteur oder, wenn man so will, zur Komplizenschaft mit der Künstlerin eingeladen oder verführt. Dass ihr Werk durchaus auch über gesellschaftskritische und politische Aspekte verfügt, beweist Liliana Moro dann im großen Oberlichtsaal 3. Hier sind drei installative Arbeiten zu sehen, ergänzt noch um eine vierte, die sich hinter einer Trennwand befindet. Die Leichtigkeit und das auf angenehme Art oft Improvisierte des italienischen Sommers und Strandlebens transportiert hier die Arbeit „Quattro Stagioni“ (2014). Sie besteht aus einer Gruppe von vier im Rechteck aufgestellten, bunten Sonnenschirmen, die gleichzeitig als Haltekonstruktion für eine Art Konferenztisch aus gelb gestrichenen Brettern dienen. Drum herum steht eine Reihe von Campingstühlen aus grünem Plastik. Wer hier zu welchem Zweck zusammenkommen soll, bleibt im Unklaren beziehungsweise der Fantasie des Publikums überlassen.
Unweit von diesem Ensemble befindet sich, knapp unter der Decke montiert, die Arbeit „… senza fine“ (2010) in Form eines Trichterlautsprechers, wie er in manchen Ländern für Durchsagen oder zur Beschallung mit Musik im öffentlichen Raum Verwendung findet. Eine durchaus ambivalente Vorrichtung, kann sie doch einerseits, etwa in stark vom Tourismus geprägten Gebieten, zur Unterhaltung oder zur Verbreitung guter Laune dienen, von autoritären Regimen eingesetzt, aber auch zur Disziplinierung und Drangsalierung der Bevölkerung oder oppositioneller Kräfte. Liliana Moro lässt aus dem Lautsprecher das alte italienische Partisanenlied „Bella ciao“ in einer Vielzahl unterschiedlicher Interpretationen erklingen. Wer sich an heiße italienische Sommer in den 1990er oder frühen 2000er Jahren erinnert, den dürfte das Lied häufig auf den beliebten, in nahezu jedem Dorf veranstalteten Sommerfesten linker italienischer Parteien gehört haben. Angesichts der von der extremen Rechten geprägten gegenwärtigen politischen Großwetterlage in der Heimat der Künstlerin wirkt das Ganze daher wie eine wehmütige Reminiszenz an längst vergangene Zeiten.
Ganz leise, eher nachdenkliche Töne erklingen dann aus der Installation „Le Nomadi“ (2023). Wie zufällig abgestellt oder von ihren Besitzer:innen vergessen, wirken die zehn bunten, bis auf eine Ausnahme auf Trolleys geschnallten Rucksäcke, wären da nicht die Elektrokabel, die sie auf geheimnisvolle Art miteinander verbinden und die in ihrem Inneren verborgenen Lautsprecher mit Strom versorgen. Zu hören ist ein Gewirr von weiblichen Stimmen. Um sie genauer wahrzunehmen, ist es allerdings erforderlich, sich ein wenig zu bücken oder in die Hocke zu gehen. Aus einem der Gepäckstücke lässt Liliana Moro eine Auswahl der berühmtesten Arien von Maria Callas erklingen.
Insgesamt hat das Ensemble, in das auch zwei ältere, bereits 2012-2013 entstandene Elemente integriert sind, den Charakter einer gleich zweifachen Hommage. Einerseits rekurriert die Arbeit auf Werke der von Moro geschätzten deutschen Künstlerin Isa Genzken, die ebenfalls dafür bekannt ist, bunte und billige Alltagsutensilien aus der Konsumwelt als stumme Platzhalter für menschliche Lebens- und Leidenssituationen zu arrangieren. So etwa in ihrer Arbeit für die Skulptur Projekte Münster 2007. Andererseits kann „Le Nomadi“ auch als feinfühliges, gleichsam prekäres Monument für die unzähligen obdachlosen Musikant:innen gelesen werden, denen Liliana Moro Tag für Tag in der U-Bahn ihrer Heimatstadt Mailand begegnet.
Liliana Moro, die zunächst Bühnenbild studieren wollte, hat ihr schon seit der Schulzeit bestehendes Interesse an eher reduzierten, lakonischen Rauminszenierungen niemals aufgegeben. Insbesondere betont sie den starken Einfluss, den das Werk des irischen Schriftstellers und Dramatikers Samuel Beckett (1906-1989) von Anfang an auf ihre Arbeit ausgeübt hat: „Als Jugendliche habe ich »Warten auf Godot« gelesen, das mich sehr beeindruckt hat. Ich glaube, im Laufe der Zeit begann diese Faszination für die Unvollkommenheit, dieses Straucheln des Lebens, diese wenigen Worte, dieses Arbeiten in einem selbst zu wirken. Meine Herangehensweise in der Kunst beruht nicht auf der Erkenntnis, dass ich gut zeichnen kann, es war eher eine philosophische Annäherung, und über die Worte Becketts habe ich begonnen, mir einen Raum auszumalen.“
Wie kleine Bühnenbilder wirken denn auch die 22 Exponate aus der in der ersten Hälfte der 1990er Jahre begonnenen und bis heute fortlaufenden Serie „Spazi“. Auf Sockeln präsentiert werden gleich im ersten Raum der Ausstellung kleine, aus Karton produzierte Modelle etlicher ihrer bisherigen Ausstellungen. Eine wandfüllende Fototapete mit zwei protestierenden Frauen, ausgerüstet mit tragbaren Megaphon-Lautsprechern, komplettiert dieses Raumensemble und schafft Querverbindungen zu anderen Elementen der Retrospektive.
Ob die bereits 1988 für den öffentlichen Raum der italienischen Kleinstadt Novi Ligure entstandene Arbeit „La Passegiata“, bestehend aus zahlreichen dysfunktionalen, weil aneinander geketteten und rudimentär ausgeführten „Rollschuhen“ oder die aus zwölf kreisförmig aufgestellten Lautsprechern bestehende, einem gesprochenen Selbstporträt in deutscher Sprache gleichkommende Soundarbeit „Moi“ (2012): Liliana Moro und Letizia Ragaglia decken mit der Vaduzer Ausstellung nahezu das gesamte Spektrum dessen ab, was Liliana Moro in den nunmehr fünf Jahrzehnten ihrer Karriere geschaffen hat.
Der Aspekt des Generationsbruchs und der Distanzierung von den überwiegend männlichen Vorläufern ist dabei besonders zu betonen. Anders als ihr Lehrer Luciano Fabro und seine männlichen Künstlerkollegen wie zum Beispiel Giulio Paolini, Giuseppe Penone oder Jannis Kounellis lehnt es Liliana Moro ab, sich über eine Gruppenzugehörigkeit zu definieren. Die klassische Arte Povera war für sie schon während des Studiums etwas in sich Abgeschlossenes. „Wir wollten endgültig mit einer Vergangenheit brechen, die schwer auf uns lastete, wir wollten uns nicht als »Erben von…« auffassen, und wir waren uns der Tatsache bewusst, dass die Tendenzen, die Gruppen, all die »-ismen« keinen Sinn mehr hatten“, sagt sie. Und fügt hinzu: „In zwei Worte gepackt: Wir waren frei, und wir waren Individualisten.“
Im Kunstmuseum Liechtenstein ist das Werk dieser entschiedenen Individualistin nun erstmals in dieser Breite und Tiefe zu entdecken.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Liliana Moro–Andante con moto
Ort: Kunstmuseum Liechtenstein
Zeit: bis 1. April 2024, Di–So 10-17 Uhr, Do 10–20, montags geschlossen
geschlossen am 24,.25.,31.Dezember 2023 und 1. Januar 2024
Ostermontag 10-17 Uhr geöffnet
Katalog: erscheint Anfang 2024 im Distanz Verlag (deutsch/englisch)
Internet: www.kunstmuseum.li
www.galeriegretameert.com