Mode und ihr Chicsal: Seit sie erfunden wurde, muss sie sich immer neu erfinden. Im Jahr 1858 gründete Charles Frederick Worth das erste Couture-Haus in Paris und somit die Welt des schönen Scheins. Das Modehaus Maison Martin Margiela unterwandert seit 1988 hingegen die Jagd nach dem Zeitgeist und spielt mit den Begrenzungen des Systems. Einblicke in das Mysterium Margiela.
Oktober 1988. Das Cafe de la Gare in Paris, ein altes Theater, ist mit Holzbänken bestellt. Man mag sich die hochgezogenen Augenbrauen des Publikums ausmalen, die der telegrafischen Einladung folgten, dem ersten Defilee von Martin Margiela beizuwohnen. Seit dem ersten Auftritt der Haute Couture auf der Weltausstellung 1900, ist Paris die Hauptstadt der Mode. So hieß es selbstbewusst in einer damaligen Zeitungskritik: „Für all jene, die auf Altären der Anmut, des Glanzes der Pracht und der Schönheit opfern, für all jene war, und wird Paris das allein selig machende Wallfahrtsziel sein und bleiben.“ Was die Zuschauer allerdings jetzt sehen werden, ist nicht schön, sondern verstörend.
Hard-Rock tönt aus den Lautsprechern, Models betreten den mit Papier ausgelegten Laufsteg, um ihn gleich wieder zu verlassen und im Publikum umher zu stampfen. Mit ihren Tabi-Boots, die ihre Zehen wie Hufen entzwei teilen. Die Gesichter mit Strumpfmasken bandagiert, die Haare tief ins Gesicht gekämmt. Die Beine bemalt mit einem schwarzen Bleistiftstrich, der eine Naht von Seidenstrümpfen vortäuscht. Die Mannequins tragen nur weiße Ärmel – sonst nichts. Und als Finale: Arbeitskittel, die als Haute Couture angepriesen werden. Das Publikum staunt. Bereits die erste Schau Martin Margiela kündigte Themen und Konzepte an, die sich in seltener Konsequenz bis heute durch alle Kreationen des Modehauses erstrecken – durch die Kleidung, die Installationen, die Einrichtung der Büros und Läden, ja des Hotels „La Maison Champs-Élysées“, das im April 2011, die Pforten öffnete und von Margiela gestaltet wurde.
Die Macht des Unsichtbaren
So wie Martin Margiela die Gesichter der Modelle anonymisiert und somit ihre Identität unkenntlich macht, so bleibt er selbst unsichtbar und macht sich zum Phantom seiner Branche. Es existieren keine Fotos von ihm, er selbst bleibt seinen Schauen oft fern, gibt keine Interviews, beantwortet Anfragen nur via Fax und streicht das Wort „ich“ aus seinem Vokabular. Das Maison Martin Margiela kommuniziert nur in der „Wir“-Form, um das Team in den Vordergrund zu rücken.
“Das einzige, was bei uns in der ersten Reihe steht, ist die Mode,” beschreibt Margiela die Philosophie des Hauses. Das Eigentliche, die Kleidung soll in den Fokus gerückt werden, nicht das Projizierte, das Image. Als Etikett dient ein leeres, weißes Baumwollschild. Es trägt keine Aufschrift. Das Label wird mit vier Stichen auf die Innenseite des Kleidungsstücks aufgenäht, von Außen ist so allein ein Fadenkreuz sichtbar. Auf den ersten Blick eine Absage gegen gängige Branding-Strategien, beherbergt gerade ein mächtiger Markennamen die Fähigkeit zur Distinktion. Doch gerade die kaum sichtbare Labelnaht ist zu einem Geheimcode geworden, der zur Markenbindung beiträgt.
Die Mode von Margiela kann unabhängig von der Person des Designers existieren. Das ist einleuchtend, macht man sich das Gegenteil bewusst: Die Kollektion einer Paris Hilton, bei der nur elegante Bedeutungslosigkeit zum Tragen kommt. In einer Zeit von Personenkult, ist es ein wohltuender Habitus: das Werk steht vor dem Schaffenden.
Foucault ist in Gedanken ganz nahe bei ihm, wenn er in der Archäologie des Wissens, dem Autor und seiner Arbeit die Bewegung des Verschwindens unterstellt. “Viele, zweifellos auch ich, schreiben um kein Gesicht mehr zu haben. Fragt mich nicht wer ich bin und ob ich der gleiche bleibe.“ So treten Autor und Werk hinter einer gesichtslosen Leere zurück und schaffen Raum für den Diskurs. Eine weiße Leinwand, eine leere Projektionsfläche, die den Nullpunkt von Mode signalisiert. Den symbolischen Neuanfang.
Schattierungen von Weiß
So spielt auch die Farbe Weiß in dem Oevre von Margiela eine große Rolle, besser gesagt: die Schattierungen von Weiß. Es war die Antwort auf die Dominanz der Farbe Schwarz in den 80er Jahren, die langsam zum Klischee verkam. Margiela macht Identität sichtbar, indem er Kleidung mit weißer Farbe übertüncht. Mit der Zeit wird die Farbe abgetragen, Schichten blättern ab und Gebrauchspuren des Lebens zeichnen sich ab. Er nennt es „die Stärke von Zerbrechlichkeit und die Zerbrechlichkeit der Zeit“, die sich in den Kleidungsstücken manifestiert und von einer individuellen Erfahrungswirklichkeit erzählt.
Alle Büros und Läden sind in weiß gehalten. Konzepte und Ideen werden in weiße Ordner archiviert. Das Mobiliar wird unter weißen Stoffbahnen verhüllt. Alle Mitarbeiter des Maisons tragen weiße Kittel – als würden sie Mode im Labor erforschen. Oder kurieren sie nur das Virus Vergänglichkeit, das Kleidung anhaftet? Was sie auch tun, das Maison hat ein eigenes Periodensystem entwickelt, messerscharf die Formeln der Branche erforscht und in ihre Bestandteile zerlegt.
Nur wer die Physik der Attraktion und Wirkung beherrscht, kann daraus ausbrechen. Systematisch unterwandert so das Maison die Kultur des Spektakels und lässt den manischen Hunger nach dem Brandneuen ins Leere laufen. 1993 kreiert das Maison eine Kollektion, die gegen den Duktus des Dernier Cri, den letzten Schrei, vorgeht. Das Maison präsentiert eine Kollektion, die nur aus Versatzstücken der Kollektionen aus den letzten sieben Jahren bestand. Eine Archäologie der Mode, die nach Fossilien der Vergangenheit schürft.
Artisanal Collection
Die Artisanal Collection räumt mit dem westlichen Verständnis von Luxus auf, das nur teure Materialien zur Verarbeitung vorsieht. Das Maison Martin Margiela nimmt ausgemusterte Kleidung, wiederentdecktes, wiederverwertbares Material und rekombiniert sie zu Einzelstücken. Ein neues Leben, für verlassene Gegenstände, für das Ausgemusterte. “Garments remodelled by hand” deutet auf einen Prozess der Rückgewinnung hin. Die geschichtliche Zeugenschaft der Materialien wird in den Zustand einer neuen Sinnschreibung überführt. „Für uns sind es nicht die Kleidungsstücke, die im heutigen Sinne des Wortes alt sind. Wir verwenden Materialien aus vielen Quellen und Zeiten, viele von ihnen sind sehr gewöhnlich.”
Haute Couture heißt nicht zwingend neu. Bei Margiela ist es eine Hommage an die Handwerkkunst, die aus Versatz- und Bruchstücken Unikate hervorbringt. Die Anzahl der Stunden für die Anfertigung wird en detail kommuniziert. Doch warum nur neue Kleidung rekonstruieren, indem man alte oder neue Kleidung rekombiniert? “Warum nicht ein Gebäude schaffen aus anderen Gebäuden?”. Die Vielfalt an Ideen scheint noch lange nicht ausgeschöpft zu sein. Andy Warhol war einer der Vorreiter dieser Idee. Er entwarf 1975 seine “composite dresses”, aus einem Potpourri aus Prada-, Gucci- und Versace-Teilen und arrangierte sie neu. Der US-amerikanische Künstler hatte alle Labels zu einem Emblem zusammengenäht.
Ästhetik des Unfertigen
Schon 1981 zeigt die Japanerin Rei Kawakubo mit ihrem Label Comme des Garcons ihre erste Frauenkollektion in Paris – die Looks entsprechen einer diametral entgegengesetzten Designphilosophie der europäischen Mode-Häuser. Westliche Kritiker beschreiben die Kollektion als „Hiroshima-Chic“, da Modelle in nahezu atomaren Fetzen über den Laufsteg wandeln. Die Geburtsstunde der Anti-Mode, die an den Grundfesten ästhetischer Überzeugungen rüttelte. Sollte Mode nicht schön sein?
Margiela bezeichnet sich als Kind japanischer Designer und bricht mit dem Allzu-Perfekten, der auf Hochglanz gedrillten Kleidung. Margiela wendet sich ab von fabrikfrischer Makellosigkeit. Stattdessen macht Margiela den Herstellungsprozes in den Kollektionen sichtbar und deckt die Geschichte des Kleidungsstücks auf. Die Produktion wird von innen nach außen gekehrt. Seit jeher blieb sie doch im Verborgenen. Elemente eines Kleidungsstücks wie Reißverschlüsse, Schulterpolster, Futter, Muster werden jetzt offen präsentiert. Margiela kehrt Nähte nach außen, zeigte ausgefranste Säume und entwirft ein Kleid aus grober Baumwolle mit handgeschriebenen Anweisungen, basierend auf dem Modell des Vorentwurfs. Alle Änderungen und Makel bleiben erhalten. Margiela stellt ein Jackett nur zur Hälfte fertig, die andere Seite vollendet er nicht, der überschüssige Stoff verharrt auf einer Baumwollrolle.
Seine Kleidung trägt die Signatur des Prozesses. Das Maison ist mehr am Werden, als am Sein interessiert – proklamiert eine Ästhetik des Unfertigen. Deswegen wird Margiela als großer Dekonstruktivist der Mode bezeichnet. Er sträubt sich gegen diese Schublade, sieht er doch gerade das Tailoring, die Konstruktion und Komposition als integralen Part seiner Arbeit.
Doch obwohl das Maison Mode auskundschaftet, sie nicht nur macht, sondern auch denkt und somit den Intellekt des Betrachters beansprucht, verortet es seine Werke nicht in die Nähe der Kunst. “Mode ist Handwerk, technisches Verständnis und nicht eine Kunstform. Unser System ist von Kollaboration geprägt, die Arbeiten werden zwei mal im Jahr präsentiert, immer mit dem gleichen Respekt vor der menschlichen Form, immer mit den gleichen industriellen Rahmenbedingungen, der gleichen Distribution.“ Es ist nur ein Spiel, das Grenzbereiche auslotet.
Augenwischerei
Ein Spiel, das auch szenografisch im Raum erfahrbar wird. Nicht nur durch die weiße Farbe, sondern auch durch den illusionistischen Effekt des Trompe L’Oeil, der Optischen Täuschung. Die Irreführung – ein Markenzeichen der Mode, die sich oft in den Hochnebel der Bedeutung wähnt. Bei Margiela ein weiteres Konzept, das zur Einrichtung der Läden, Büros und des neuen Hotels herhält. Mustergültig umgesetzt im Pariser Hauptsitz: Türen sind mit fotokopierten Bilder anderer Türen dekoriert. Details früherer Büros wie Kaminsimse, Rahmen aus Marmor, barocke Spiegel wurden fotografisch dokumentiert und an die Wände angebracht. Kunstvolles Vexierspiel auch im Hotel: Der Dielenboden ist nur ein Wollteppich, Deckenfließen im Bad, sowie eine Bibliothekwand nur aufgemalt.
Was ist echt, was ist nur Täuschung? Ein lebendige Metapher, die an das Wesen von Mode erinnert, das oft mit Trends ein neues Wesen vorgaukelt. Derzeit ist Grün das neue Schwarz. Umweltbewusstsein, der Glamour einer neuen Öko-Bohème, die dem Markt nicht lustfeindliche Askese sondern ethisch korrektes Einkaufen entgegensetzt. Dabei besteht die Sorge, dass die Industrie nur halbherzige Angebote macht, um ein Kaufgewissen zu befrieden. Eco-Fashion kann schnell zum Eco-Hype verkommen.
Das grüner Öko-Lifestyle nicht gleich Nachhaltigkeit bedeutet, ist ein entscheidender Punkt. Denn es ist essentiell, nicht nur ökologische Überlegungen bei der Auswahl der Materialien oder der Verfahren der Herstellung mit einzubeziehen, der Schlüssel zu diesen veränderten Bedürfnissen liegt eindeutig in der Relevanz des Designs selbst. Das Maison arbeitet insofern nachhaltig im System der Mode, da es dauernde Konzepte gegen schnelllebige Fashion-Rhythmen ausspielt.
Ein neuer Wind
Seit 2002 weht allerdings ein neuer Wind. Margiela verkauft sein Unternehmen an Renzo Rosso, ein italienischer Unternehmer, der auch die Marken Diesel, Dsquared² und Viktor & Rolf sein Eigen nennt. Das Unternehmen wird auf Expansion getrimmt. 2002, vor der Übernahme betrug der Umsatz von Maison Martin Margiela knapp € 18 Mio.; 2009 sind es € 70 Mio.
Im Dezember 2009 gibt Margiela bekannt, sein eigenes Label nach knapp 20 Jahren zu verlassen. Das letzte Aufbegehren eines Mannes, der sich dem Drängen nach kapitalistischer Verwertungslogik widersetzt? Das steht bis heute nicht fest.
Die Geschicke des Hauses werden jedenfalls wie zuvor von dem Design-Kollektiv gesteuert. Die Idee hat immer gezählt, nicht der zur Originalität verdammte Schöpfer. Der Geist Margielas ist in den unzähligen Konzepten und Themen lebendig. So ist abzuwarten, ob sich das Label nun im kreativen Sinkflug befindet, wie befürchtet, oder sich im Moment hält noch mit der Radikalität früherer Entwürfe zurückhält. Wie zu sehen in der neuesten Fall-Winter-Kollektion 2012, die Anfang März in Paris vorgestellt wurde. Das Inkognito-Prinzip ist angedeutet: die Gesichter einiger Models liegen noch halb im Verborgenen. Die Typographie von Coats wird spielerisch getestet. Das Verwirrspiel bleibt bestehen – die Ärmel von manchen Mänteln sind nur angenäht.
Die Einschätzung ihrer Arbeit überlässt das Maison lieber anderen. So wurde es nacheinander eingestuft als: Underground, Dekonstruktivismus, Zerstörung, Grunge, Minimalismus, Provokation, Establishement. Unabhängig welche Mode der Meinung gerade herrscht. Martin Margiela ist jedenfalls nicht weg. So wenig wie ein Phantom weg sein kann.
Bildnachweise
Alle Kollektionsbilder mit freundlicher Genehmigung von Maison Martin Margiela. Fotos vom Atelier stammen von Julien Oppenheim, die Bilder von dem Hotel sind von Martin Houhton.