Menschen, Schicksale und Landschaften jenseits des American Dream: Die Fundación MAPFRE in Madrid zeigt eine großangelegte Retrospektive zum Werk des 1933 geborenen New Yorker Fotografen Bruce Davidson.
Berühmt geworden ist der amerikanische Fotograf Bruce Davidson mit ikonischen Aufnahmen, deren Entstehungszeit zwar schon lange zurückliegt, deren Aktualität aber auch heute noch mit den Händen greifbar ist. In den 1950er und 1960er fotografierte er amerikanische Individuen, an denen die aufgewühlte Grundstimmung und Verfasstheit einer ganzen Nation ablesbar wurde.
Bruce Davidson: Coney Island, Brooklyn, 1959, © Bruce Davidson / Magnum Photos
Für sein 1959 entstandenes Langzeitprojekt „Brooklyn Gang“ etwa dokumentierte er den Alltag einer Jugendbande in New York. Zwischen 1961 und 1965 reiste er für seine umfangreiche Serie „Time of Change“ im Auftrag der New York Times durch das ganze Land, insbesondere aber immer wieder in die Südstaaten der USA, um dort die Auswüchse der Rassentrennung, den harten Alltag der Farbigen, die Machenschaften des Ku Klux Klan, aber auch das allmähliche Erstarken der Bürgerrechtsbewegung zu fotografieren. Seine Aufnahmen aus Selma, Alabama oder vom legendären „March on Washington“ im August 1963 gehören zu den Ikonen der US-amerikanischen Fotografiegeschichte.
Die Fundación MAPFRE in Madrid zeigt jetzt die erste große Retrospektive zum Lebenswerk des 1933 in Chicago geborenen, heute in New York lebenden Magnum-Fotografen. Knapp 200 Fotografien aus sieben Jahrzehnten sind zu sehen. Daneben aber auch Erstausgaben von Fotobüchern und Originalausgaben von Reportagemagazinen wie LIFE oder Du, in denen Davidsons Bildstrecken veröffentlicht wurden. Wie immer bei den großen Fotoausstellungen in der Fundación MAPFRE, die sich in den letzten Jahren Größen des Mediums wie zum Beispiel Stephen Shore oder Josef Koudelka gewidmet haben, folgt der Ausstellungsparcours der Chronologie des Werkes.
Bruce Davidson Retrospektive in der Fundación Mapfre in Madrid, Foto: Heiko Klaas
Bereits mit zehn Jahren hatte sich Bruce Davidson im Keller seiner Großmutter seine erste Dunkelkammer eingerichtet. Mit 17 Jahren nahm er am Rochester Institute of Technology (RIT) ein zweijähriges Fotografiestudium auf. Anschließend absolvierte er ein Kunststudium an der Yale University, wo er unter anderen auch dem aus Deutschland emigrierten Bauhaus-Künstler Josef Albers begegnete. In Yale ist auch seine erste in einem Magazin veröffentlichte Fotoreportage entstanden. Als Abschlussarbeit fotografierte Davidson das Yale Football Team. Allerdings nicht wie sonst üblich in heroischer Pose auf dem Spielfeld, sondern in ruhigen und nachdenklichen Momenten im Halbschatten der Umkleidekabine. Diese zurückgenommene Ästhetik kam offenbar an. Das Magazin LIFE, dem Davidson kurz bevor er zum Militär eingezogen wurde, die Bilder angeboten hatte, meldete sich bei ihm und veröffentlichte seine Fotografien im Oktober 1955 unter dem Titel „A Dangerous Silence“.
Während seiner Militärzeit in Arizona begegnete Davidson einem älteren Ehepaar, das in einem einsam gelegenen, barackenartigen Haus am Rande der Wüste lebte. Er freundete sich mit dem 94 Jahre alten John Wall, einem ehemaligen Goldschürfer, und seiner 79-jährigen Frau Kate an und verbrachte die Wochenenden mit ihnen. Davidsons erste große Serie fängt die Gleichförmigkeit ihrer Tage, das einsame und entbehrungsreiche Leben, aber auch Momente großer emotionaler Nähe und gegenseitiger Fürsorge ein, die dieses Paar verbindet. Eine amerikanische Existenz zwischen Erschöpfung und Aufblühen, Festhalten und Loslassen, Alltagsroutine und der Gewissheit des nahenden Todes.
Bruce Davidson: London, 1960, © Bruce Davidson / Magnum Photos
Bereits mit dieser Serie war Bruce Davidsons unverwechselbare Grundhaltung gegenüber seinem fotografischen Gegenstand geboren. Der respektvolle Umgang mit den Porträtierten und die persönliche Teilhabe an ihrer Lebenssituation gehören für ihn untrennbar dazu. Sein Werk sperrt sich dabei gegen jeden Versuch der Schubladisierung. Davidson war zwar häufig mit einer Reporterausrüstung unterwegs. Seine Haltung war jedoch stets eine ganz andere als die seiner für die Tagespresse arbeitenden Kollegen. Statt schnell in eine Situation hineinzugehen, ein paar Fotos zu machen und ebenso schnell wieder zu verschwinden, bevorzugt er – ähnlich wie die schreibenden Kollegen vom „New Journalism“ – die langsame Annäherung an den Gegenstand seines fotografischen Interesses.
Stark beeinflusst wurde Bruce Davidsons Ästhetik einerseits von Robert Franks Reportage „The Americans“, insbesondere aber auch von W. Eugene Smiths berühmtem Foto-Essay „A Country Doctor“ aus dem Jahre 1948. In einer 23-tägigen Langzeitbeobachtung für das LIFE Magazin dokumentierte Smith damals mit viel Einfühlungsvermögen, aber auch mit der nötigen professionellen Distanz den Alltag eines Landarztes in Colorado.
Bruce Davidson wurde 1956 von der US-Army nach Frankreich versetzt. Hier traf er durch Vermittlung eines französischen Soldaten auf Madame Margaret Fauché, die Witwe des Impressionisten Léon Fauché. Über mehrere Monate hinweg besuchte er die alte Dame jedes Wochenende in ihrer Pariser Wohnung oder unternahm Spaziergänge mit ihr. In seiner berührenden Serie „The Widow of Montmartre“ hielt er fest, wie sich die Witwe in ihrer mit Erinnerungsstücken an ihren Mann vollgestopften Wohnung hoch auf dem Montmartre in ihrer Einsamkeit eingerichtet hat, ihrem verstorbenen Mann Blumengrüße darbringt, aber auch wie sie ihren Kummer mit Alkohol bekämpft.
Bruce Davidson Retrospektive in der Fundación Mapfre in Madrid, Foto: Heiko Klaas
In Paris trifft Davidson auch den Mitbegründer der Fotografenagentur Magnum, Henri Cartier-Bresson, der von seiner Arbeit begeistert ist. Mit 25 nimmt ihn die Agentur Magnum als damals jüngstes Mitglied auf. Cartier-Bresson wird zum lebenslangen Freund und Mentor.
Zurück in den USA, entsteht 1958 eine Serie über den Lebensalltag von Jimmy Armstrong, einem Liliputaner, der als Clown und Zwergendarsteller seinen Lebensunterhalt in einem Zirkus verdient. Davidson zeigt Armstrong jenseits der Manege: beim Rauchen einer Zigarette nach der Vorstellung, als Gast in einem Diner oder hineingekauert in das enge Schlafabteil eines Zirkuswagens.
Bruce Davidson: Jimmy Armstrong, the Palisades, New Jersey, 1958, © Bruce Davidson / Magnum Photos
Ein Jahr später folgt mit „Brooklyn Gang“ eine in ihrer Ästhetik weitaus lebhaftere Serie. Über elf Monate hinweg taucht Davidson immer wieder mit seiner handlichen Leica in den Alltag der Jugendbande „The Jokers“ ein. Der 25-Jährige schafft es, das Vertrauen der im Durchschnitt 17-jährigen Teenager zu gewinnen. Es entstehen situative, wie mit unsichtbarer Kamera geschossene Aufnahmen voller ausgestellter Coolness, selbstverliebter Posen, intimer Nähe, aber auch großer Verwundbarkeit. Als das nüchterne Porträt einer unangepassten Clique, die sich mit dem Establishment anlegt, wollte er diese Serie jedoch nicht verstanden wissen: „Diese Fotos handeln nicht von Gangs, sie erzählen davon, wie es ist, ein Teenager zu sein.“
Von nun an ist Davidson gut im Geschäft. Magazine wie LIFE, Vogue, Esquire, das Sunday Times Magazine und andere buchen den jungen Fotografen und schicken ihn in die Welt hinaus. Die Ausstellung zeigt beeindruckende Bildstrecken aus London, England, Schottland, Sizilien, Mexiko und Spanien, die Davidsons Gespür dafür zeigen, die Eigenheiten einer Region oder eines Landes in tiefgründigen Porträts seiner ganz unterschiedlichen Bewohner zu verdichten. Vielfalt statt Gleichförmigkeit: In seiner fotografischen Erkundung Großbritanniens etwa bildet Davidson eine jugendliche Ausreißerin, Mitglieder der Working Class, einfache Landarbeiter, aber auch Angehörige des Hochadels durchweg als Persönlichkeiten mit der ihnen eigenen Würde ab.
Es folgte die eingangs bereits erwähnte Serie „Time of Change“, die ihn zum unerschrockenen Zeitzeugen längst überfälliger gesellschaftlicher Reformen machte. Davidson war mit seiner Kamera dabei, als Martin Luther King seine berühmte Rede „I have a Dream“ gehalten hat. Er begab sich aber auch in Gefahr, als er heimlich versuchte, ein Ku Klux Klan-Treffen in Georgia zu fotografieren. Es war in sinnloses Unterfangen, hier so etwas wie einen Konsens mit den Porträtierten herstellen zu wollen. So fotojournalistisch wie hier war er wahrscheinlich nie wieder unterwegs. Dennoch gelangen ihm auch hier wieder ausdrucksvolle und nahezu zeitlose Porträts wie etwa die Aufnahme eines weiß geschminkten jungen Farbigen, der die Aufforderung „VOTE“ auf seine Stirn geschrieben hat. Davidson: „Ich wollte, dass diese engagierten Demonstranten als Individuen und nicht als Gesichter in der Menge in die Geschichte eingehen.“
Bruce Davidson: The Selma March, Alabama, 1965, © Bruce Davidson / Magnum Photos
Für eine seiner berühmtesten Serien „East 100th Street“ (1966-1968) besuchte Davidson zwei Jahre lang Woche für Woche einen von Afro-Amerikanern und Latinos bewohnten Wohnblock in Spanish Harlem. Mit einer Großformatkamera entstanden hier eindringliche Porträts an der Schnittstelle von Schnappschuss und Pose. Der Fotograf dazu: „Ich kam mit einer Großbildkamera und einem Stativ in die 100. Straße. Es kam mir auf Schärfentiefe und Detailgenauigkeit an, und ich wollte den Menschen unbedingt auf Augenhöhe begegnen. Die Fotos sollten einfach so entstehen ohne unangenehme Überraschungen oder Störeffekte.“ Diese Serie wurde bereits im Jahr nach ihrer Fertigstellung im New Yorker Museum of Modern Art (MoMA) ausgestellt.
Ebenfalls in Madrid zu sehen ist Davidsons zwischen 1973 und 1976 in New York entstandener Foto-Essay „Garden Cafeteria“. Vermittelt durch den aus Polen emigrierten Schriftsteller und Literatur-Nobelpreisträger Isaac Bashevis Singer, erhielt Davidson, dessen Vorfahren ebenfalls polnische Juden waren, Zugang zu einer Gruppe von Holocaust-Überlebenden, die sich regelmäßig in einem Café in der Lower East Side traf. Es entstanden eindringliche Porträts von überwiegend alten Menschen, die aus ihrer früheren Heimat vertrieben wurden, in ihrer neuen aber nie richtig angekommen waren.
Die Serien „New York Subway“ (1980) und „Central Park“ (1992-1995) wiederum widmen sich speziellen Aspekten des Lebens in New York. In beiden Milieus entdeckt Davidson einen Querschnitt dessen, was für ihn New York ausmacht: Die Vielfalt von Menschen und Lebensentwürfen.
Bruce Davidson Retrospektive in der Fundación Mapfre in Madrid, Foto: Heiko Klaas
Für Kenner seines Werks überraschend dürften hingegen die eher kontemplativen Naturaufnahmen sein, die Davidson im vergangenen Jahrzehnt in Paris, New York und Los Angeles gemacht hat. Hier wendet er sich vom Menschen und seinen zivilisatorischen Eingriffen weitgehend ab und entdeckt die Schönheit der Natur inmitten der gebauten Stadt. Seine 2005 entstandene Aufnahme vom Eiffelturm etwa zeigt im Vordergrund einen rund 500 Jahre alten Baum. Die Eisenkonstruktion des Pariser Wahrzeichens hingegen ist nur durch das Blattwerk des Baumriesen hindurch zu erkennen. Dazu Davidson: „Wir besuchen den Eiffelturm. Aber wir übersehen, dass in direkter Nachbarschaft ein 500 Jahre alter Baum steht. Ich möchte die Aufmerksamkeit des Betrachters auf die Wichtigkeit und Notwendigkeit von städtischem Grün lenken.“
Die Ausstellung in Madrid zeigt, dass Davidson im Laufe seiner nunmehr über 60 Jahre andauernden Karriere seinen hohen ethischen Ansprüchen immer treu geblieben ist. Er agiert nie als Eindringling, er moralisiert nicht, und er verzichtet trotz seiner Anteilnahme auf sentimentale Überhöhungen. Sein Werk zeichnet sich dabei durch Neugier, Leidenschaft und Empathie aus. Der effekthascherische Sensationalismus konventioneller Fotoreportagen ist ihm vollkommen fremd. Auch geht es ihm nicht so sehr um den isolierten Moment oder das Einzelbild wie dem von ihm bewunderten Henri Cartier-Bresson, sondern vielmehr um das Herstellen von nachvollziehbaren Zusammenhängen. Bruce Davidson: „Cartier-Bresson hat mich sehr beeindruckt, ich selbst aber habe schnell damit angefangen, mich länger mit meinen Sujets zu beschäftigen. Ich denke, gerade weil ich nach dem einen Bild suche, das ich doch nie finde, bleibe ich umso länger bei der Sache. Dieser kumulative Effekt sagt Entscheidendes über das Sujet aus.“
Bruce Davidson Retrospektive in der Fundación Mapfre in Madrid, Foto: Heiko Klaas
Lange Zeit musste sich Davidson allerdings mit kommerziellen Aufträgen über Wasser halten, um sich und seine Familie zu ernähren. Die Anerkennung durch die Kunstwelt blieb ihm daher trotz anfänglicher Ausstellungen im MoMA zwischenzeitlich immer wieder versagt. Heute jedoch ist sein Werk weltweit in zahllosen Auflagen publiziert worden. Verlage reißen sich um die Bildrechte, und Bruce Davidson gehört längst zur Fotografen-Aristokratie. Er wird durch die renommierte New Yorker Galerie Howard Greenberg vertreten, die auch das Werk anderer namhafter Fotografen wie Berenice Abbott, Walker Evans oder William Klein in ihrem Portfolio hat.
Was macht die Besonderheit seiner Haltung aus? Er selbst hat das einmal so formuliert: „Während meiner 50jährigen Karriere als Fotograf habe ich eine Welt im ständigen Wandel erlebt: mit isolierten, misshandelten, sich selbst überlassenen, ja unsichtbar gewordenen Menschen. Ich arbeite aus einer Geisteshaltung heraus, die sich selbst immer wieder in Frage stellt, ihre Wahrnehmungsweisen und ihre Vorurteile. Ich betrachte mein Werk als fortlaufende Serie.“
Auf einen Blick
Ausstellung: Bruce Davidson
Ort: Fundación MAPFRE, Madrid
Zeit: bis 15. Januar 2017, Mo 14-18 Uhr, Di-Sa 10-20 Uhr, So und Feiertage 11-19 Uhr
Katalog: Fundación MAPFRE/Aperture, 320 S., 190 Abb. in s/w, 39,90 Euro (Ausstellung), 65 US$ (Internet)