Bekannt für ihre chamäleonartige Wandlungsfähigkeit, ist die fotografierende New Yorker Konzeptkünstlerin Cindy Sherman seit Beginn ihrer Karriere Mitte der 1970er Jahre in eine Vielzahl weiblicher Rollen geschlüpft. Welches Echo ihr gesellschaftskritischer Ansatz bei anderen Künstlern ausgelöst hat, zeigt jetzt die sehenswerte Wiener Ausstellung „The Cindy Sherman Effect“
Ein einfacher Stuhl, eine Kamera mit Stativ, eine weiße Wand, ein Selbst- oder Fernauslöser. Dazu ein paar Perücken, Schminke, diverse Brillen und Sonnenbrillen, Hand- und Einkaufstaschen, jede Menge Röcke, Hosen, Jacken, Mäntel, T-Shirts und andere Accessoires. Mit Hilfe dieser Kostüme, Requisiten, Props und technischen Vorrichtungen schuf die junge amerikanische Künstlerin Cindy Sherman im Jahr 1976 ihre heute weltberühmte Schwarz-Weiß-Fotoserie „Bus Riders“. Zu sehen ist darauf immer sie selbst, allerdings in den unterschiedlichsten Kostümierungen. Mal als spießige Hausfrau, mal als strebsame Schülerin oder als großstädtischer Dandy. Die Künstlerin verkörpert hier Fahrgäste beiderlei Geschlechts aus den unterschiedlichsten sozialen Schichten, Alters- und Berufsgruppen. Prototypische Amerikaner, gewissermaßen. Sogar die Hautfarben variiert sie, was heute angesichts einer gewachsenen Sensibilität für Phänomene wie „Black Facing“ ein absolutes No-Go wäre.
In der Ausstellung „The Cindy Sherman Effect. Identität und Transformation in der zeitgenössischen Kunst“ im Bank Austria Kunstforum Wien sind neben dieser noch sehr kleinformatigen Serie auch diverse andere Arbeiten aus dem ebenso komplexen wie faszinierend tiefgründigen Werk der 1954 in Glen Ridge, New Jersey geborenen New Yorkerin zu sehen. Darunter auch wesentlich neuere Großformate, auf welchen die Künstlerin etwa in die Rolle amerikanischer Society-Ladys schlüpft, die auf tragikomische Art und Weise gegen das Altern ankämpfen. Die Schau taugt daher durchaus auch als kleine Retrospektive ihres Gesamtwerks.
Darüberhinaus wird in der Ausstellung aber insbesondere der Einfluss Cindy Shermans auf andere, überwiegend jüngere Künstler untersucht. „The Cindy Sherman Effect“ versammelt rund 80 Werke von 21 Künstlerinnen und Künstlern, darunter mehrere serielle und vielteilige Arbeiten. Die weitaus meisten Teilnehmer und Teilnehmerinnen arbeiten im Medium Fotografie. Außerdem sind aber auch einige Videoarbeiten, skulpturale Werke und Malerei zu sehen. Neben Cindy Sherman sind so bekannte Namen wie Monica Bonvicini, Candice Breitz, Sophie Calle, Douglas Gordon oder Pipilotti Rist unter den Teilnehmern.
Ihnen allen ist eine Haltung gemeinsam, die Identität in erster Linie als Konstrukt begreift. Wieviel authentisches Ich steckt noch in unserem gesellschaftlich zur Aufführung gebrachten Ich? Sind wir nicht vielmehr gefangen in abziehbildartigen Rollen, die wir uns aus dem bunten Gemischtwarenladen der TV-Serien, Youtube-Kanäle, Hollywood-Produktionen oder Hochglanzmagazine abgeschaut haben? Wo hört unsere Individualität auf, und wo beginnt das narzisstische Plagiat gesellschaftlicher Stereotype? So lauten die zentralen Fragen der Schau.
Gleichzeitig begreift die Ausstellung die Auflösung tradierter Identitäten aber durchaus auch als Chance für das Individuum, sich neue Freiräume etwa in Form frei gewählter sexueller Identitäten zu erobern. Eine äußerst ambivalente Angelegenheit also, die von Bettina M. Busse, der Kuratorin der Schau, anhand ganz unterschiedlicher Arbeiten zur Diskussion gestellt wird.
Überaus spannend sind etwa die Aufnahmen des 1962 in der Zentralafrikanischen Republik geborenen Samuel Fosso, der in seiner Serie „African Spirits“ täuschend echt männliche und weibliche Ikonen der Black-Power-Bewegung verkörpert, darunter Malcolm X oder Angela Davies. Um geschlechtliche Mehrdeutigkeit und das subtile Spiel mit sexuellen Identitäten geht es dann wiederum bei den Künstlerinnen Catherine Opie, Zanele Muholi oder Elke Silvia Krystufek. Die Wienerin schlüpft in ihrer 1996 entstandenen „Day Dream Series“ in die Rollen von Stars. So re-inszeniert sie etwa das berühmte Pin-up, das die nackte Marilyn Monroe auf rotem Samt liegend zeigt.
Erstmals im Bank Austria Kunstforum wird auch das Medium Video prominent präsentiert. So zum Beispiel die aus sieben 2-Kanal-Videoinstallationen bestehende Arbeit „Becoming“ (2003) der in Berlin lebenden Südafrikanerin Candice Breitz. Zu sehen sind kurze, prägnante Filmsequenzen mit Hollywooddiven wie Cameron Diaz, Julia Roberts oder Jennifer Lopez. Umrundet man die auf Säulen stehenden Monitore, so erlebt man die Künstlerin selbst, wie sie in einer neutral, weißen Bluse und ohne narrativ aufgeladene Hintergrundgestaltung versucht, die Szenen so gut wie möglich nachzuspielen. Erschreckend daran ist die Beobachtung, wie symptomatisch die dabei zu Tage kommenden Klischees von inszenierter Weiblichkeit mit der Realität korrespondieren.
Wesentlich überdrehter kommt da Ryan Trecartins 2010 entstandene, rund 40-minütige Videoarbeit „The Re’Search (Re’Search Wait’S)“, die die Besucher der Ausstellung bequem vom Sofa aus betrachten können, daher. Der 1981 geborene Künstler lässt seine durchgeknallten, jugendlichen Darsteller in vollkommen bizarren Umgebungen agieren. Ein nächtlicher Swimmingpool, schrill dekorierte Jugendzimmer oder improvisierte TV-Studios im Vorort-Einfamilienhaus werden bei ihm zu temporären Bühnen extravaganter Selbstinszenierungen. Stilmittel wie Zeitlupe, Zeitraffer oder Stimmenverzerrer tragen zur Künstlichkeit der Situation bei.
In der „New York Times“ wurde Cindy Sherman vor ein paar Jahren als „chamäleonartige Schauspielerin“ bezeichnet, die sich auf ihre wechselnden Rollen bis zu einem gewissen Maß einlässt, aber niemals ganz darin aufgeht. Es ist vielleicht dieser schmale Grat, der aus dem Epischen Theater nach Brecht bekannte Verfremdungseffekt, der die Arbeiten Cindy Sherman so spannend, so besonders macht. Sie lässt dem Betrachter immer genug Distanz, damit er sich der Künstlichkeit der Situation bewusst werden und diese mit all ihrer gesellschaftlichen Sprengkraft entlarven kann.
Bettina M. Busse lässt im Katalog zu der Schau nicht unerwähnt, dass bereits die Künstlerinnen der 1960er und 1970er Jahre im Kontext der Frauenbewegung Themen wie Identität, Selbstbildnis, Rollenspiel und Sexualität für die Kunst erobert haben. Sie betont jedoch zwei wesentliche Unterschiede: „Cindy Sherman macht den eigenen Körper nicht zum Medium oder zur Projektionsfläche für ihre Kunst, und sie entwirft auch keine Selbstporträts als Symbole ihrer psychischen Verfasstheit“. Ihr gehe es viel mehr um die „Schematisierung des Individuums“ in seiner gesellschaftlich kodierten Umgebung. Genau das zeigt auch die überaus sehenswerte Ausstellung – und zwar nicht nur an herausragenden Beispielen aus Cindy Shermans eigenem Werk.
The Cindy Sherman Effect. Identität und Transformation in der zeitgenössischen Kunst
bis 21.6.20
Bank Austria Kunstforum Wien
Freyung 8
1010 Wien
Täglich 10-19 h, Fr 10-21 h
www.kunstforumwien.at