Die weltweite Corona-Pandemie hat den Kunstbetrieb vor ganz neue Herausforderungen gestellt. Alle Museen, Kunstvereine und Galerien mussten vorübergehend geschlossen werden, Kunstmessen, Biennalen und Großausstellungen wie Ruhr Ding oder die Manifesta in Marseille wurden abgesagt oder verschoben, Performances fanden ohne Publikum statt und wurden manchmal sogar im Internet gestreamt. Fieberhaft wurden in den Kunstinstitutionen in der Zeit der vorübergehenden Schließung neue Formate entwickelt, um den Kontakt zum Publikum nicht zu verlieren. Bot dieser ungewollte Lockdown vielleicht auch Chancen? Über die neuesten Entwicklungen in der Kunst in Zeiten des Coronavirus haben Nicole Büsing und Heiko Klaas ein Interview mit Meike Behm geführt. Meike Behm leitet nach Stationen in Frankfurt am Main und Hamburg als Direktorin den Kunstverein und die Kunsthalle Lingen. Gleichzeitig ist sie die Vorsitzende des Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV)
Nicole Büsing & Heiko Klaas: Seit der Ausbreitung des Coronavirus liest man auf vielen Websites der Museen, Kunstvereine und Galerien den Satz „Unsere Ausstellung ist bis auf Weiteres geschlossen.“ Die Direktoren und Mitarbeiter der Kunstinstitutionen haben verschiedene Formate entwickelt, um mit ihrem Publikum ins Gespräch zu kommen und weiterhin Präsenz zu zeigen. Da führen Museumsdirektoren durch ihre Sammlung und posten kleine Filmchen in den sozialen Netzwerken, oder Galerien laden zum Besuch virtueller Ausstellungen ein. Auch die Art Basel Hongkong vermeldete Besucherrekorde in ihren virtuellen VIP-Showrooms. Wie stehst du zu diesen digitalen Formaten?
Meike Behm: Die Corona-Pandemie trifft nicht nur die Wirtschaft, sondern vor allem die Menschen, die im absolut relevanten Betriebssystem Kunst arbeiten, sehr hart. Im Bereich bildende Kunst fällt die persönliche Vermittlung der Inhalte, die die Kunstwerke reflektieren, zurzeit komplett aus. Dies kann meiner Meinung nach auch schwer durch die Entwicklung virtueller Rundgänge durch Ausstellungen ersetzt werden, denn der Dialog mit und zwischen dem Publikum ist wichtig. Denn nur in realer Auseinandersetzung mit einer Ausstellung wird deutlich, dass jede Präsentation von Kunst auf den Ort bezogen gestaltet wurde, an dem und für den sie entsteht – das gilt sowohl für Präsentationen von Sammlungen in Museen als auch für temporäre Ausstellungen in Kunstvereinen oder Kunsthallen. Auch kann ein Film niemals das für Kunstvereine sehr wichtige Vereinsleben ersetzen, bestehend aus dem Gespräch über Kunst vor den Originalen, Bar-Abenden oder auch im Rahmen von Vorträgen über Kunst oder Philosophie und Gesprächen mit den ausstellenden Künstler*innen.
Digital erstellte Gespräche mit den Künstler*innen sozusagen als Ergänzung zu den Ausstellungen können hingegen für die Vermittlung sehr sinnvoll sein und – verbunden mit einer realen Ausstellung – ihre Inhalte vertiefen.
Da wir in der Kunsthalle Lingen einen großen Teil des Nachlasses des Künstlers Harry Kramer verwalten, pflegen und ausstellen, haben wir die Zeit während der geschlossenen Kunsthalle dazu genutzt, über sein Leben und Werk einen informativen Film zu drehen.
NB & HK: Als Vorsitzende der Arbeitsgemeinschaft Deutscher Kunstvereine (ADKV) stehst du in ständigem Austausch mit KollegInnen im ganzen Bundesgebiet. Habt ihr gemeinsame Ideen entwickelt, um die Zeit der durch das Coronavirus bedingten Schließungen von Kunstvereinen und der Absage von Veranstaltungen, Führungen, Performances, Lectures, Vorträgen etc. sinnvoll zu überbrücken?
MB: Nein, dazu, wie wir die Zeit überbrücken, haben wir keine konkreten Ideen entwickelt. Wir haben bereits vor einigen Wochen zu Beginn der Krise zwei Statements formuliert, indem wir als Vorstand der ADKV zum einen unsere Solidarität mit den Künstler*innen ausdrücken, die nun aufgrund von Absagen von Ausstellungen, der Schließung von Galerien und der Verlagerung des Arbeitsplatzes ins Homeoffice hart getroffen sind. Ein zweites Statement betont die Unterstützung der ADKV in Bezug auf die Einrichtung eines Notfallfonds und diejenige eines sechs Monate gültigen Grundeinkommens für Kulturschaffende in Höhe von 1.000 Euro.
Die Kunstvereinslandschaft ist sehr heterogen, von daher haben wir Links zu den Möglichkeiten für finanzielle Hilfe der Bundesregierung und der einzelnen Bundesländer sowohl für Kunstvereine als auch für Künstler*innen auf die Webseite gestellt, inhaltlich stehen wir beratend zur Verfügung.
NB & HK: Konkret gefragt: Wie sieht zurzeit dein Arbeitsalltag im Kunstverein Lingen aus? Haben du und deine Mitarbeiter jetzt Zeit, sich mit Dingen und Themen zu beschäftigen, die bei vollem Betrieb und geöffneten Ausstellungen zu kurz kommen?
MB: Ja und nein. Dadurch, dass wir zu Beginn der Aufforderung zu schließen kurz vor der Eröffnung der beiden kommenden Ausstellungen mit Werken von Bettina von Arnim und Helga Fanderl standen, bin ich nach wie vor mit den Vorbereitungen dieser Projekte beschäftigt. Auch wenn sich der Alltag mehr durch Videokonferenzen, Telefonate und E-Mail gestaltet als durch persönliche Termine, ist der Inhalt durch die Organisation und Realisation von Ausstellungen erfüllt. Aufgrund der Schließung musste ich eine für dieses Jahr geplante Ausstellung nach 2021 verschieben und habe dafür die Projekte für dieses Jahr ein wenig gestreckt. Gleichzeitig bietet sich mehr Zeit zur inhaltlichen Vorbereitung auf die Ausstellungen. Trotzdem fehlt das Vereinsleben sehr, der Austausch mit unseren Mitgliedern, das Gespräch mit Besucher*innen, die Einrichtung der Ausstellung gemeinsam mit Bettina von Arnim, Vorträge zu Philosophie und Kunst und auch unsere hervorragenden Konzerte.
NB & HK: Der Kunstverein Lingen liegt in Südniedersachsen, nicht weit von der Grenze zu den Niederlanden. Gibt es auch in Corona-Zeiten einen Austausch mit den niederländischen oder anderen internationalen Kollegen? Oder stellst du auch im Kunstbetrieb eine Tendenz zum Rückzug auf das Nationalstaatliche fest?
MB: Nein, zum Glück nicht. Gerade in diesem Jahr planen wir im Rahmen der Biennale „Into Nature“ , die vom niederländischen Assen aus organisiert wird, die Realisation eines ortsbezogenen Kunstwerks des Künstlers Veit Laurenz Kurz. Er realisiert eine auf den Wasserturm der Kunsthalle Lingen bezogene Installation, auf die ich schon sehr gespannt bin.
NB & HK: In diesen Tagen erhält man immer wieder Mails von Künstlern, die Werbung in eigener Sache machen in Form von manchmal täglichen Newslettern oder „Online-Galerien“ mit zum Verkauf angebotenen Kunstwerken auch zum Thema Corona. Was hältst du von solchen Initiativen? Sind sie aus der Not heraus geboren, oder beobachten wir hier eine neue Art der Direktvermarktung unter Umgehung des Galeriensystems?
MB: … Miete, Strom, Gas einerseits. Andererseits finde ich es gut, wenn Künstler*innen darauf aufmerksam machen, dass die Arbeit, die sie machen, sowohl der Vermittlung ideeller Inhalte dient als auch der Sicherung ihres Lebensunterhaltes. Vor dem Hintergrund der Einstufung in Bezug auf die Systemrelevanz heute existierender Berufe hoffe ich, dass die Gesellschaft lernt, dass dies absurd ist. Ich hoffe, dass endlich deutlich wird, dass prekäre Lebensverhältnisse durchaus nicht von den Künstler*innen gewollt sind und sie sich mit dieser „besonderen“ Lebensform wohl fühlen. Das Schaffen von Kunst ist Arbeit wie jede andere auch und diese Arbeit muss angemessen entlohnt werden. Zum Glück haben Bundesregierung und Ministerien der Länder schnell durch die Einrichtung von Fördertöpfen geholfen, trotzdem hoffe ich, dass sich die Wertschätzung und die Anerkennung von Kunst- und Kulturschaffenden nach der Krise zum Positiven wandeln.
NB & HK: Glaubst du, dass die durch die vorübergehende Schließung der Kulturinstitutionen bedingte Fokussierung auf das Internet auch langfristige Folgen für den Kunstbetrieb haben könnte, und wenn ja, welche? Wäre das begrüßenswert, oder würdest du einen solchen Trend eher bedauern und kritisch hinterfragen?
MB: Wie bereits im Rahmen eurer ersten Frage gesagt, hinterfrage ich diese Entwicklung in Bezug auf Kunstvermittlung über das Internet kritisch. Ich würde es zwar sehr bedauern, wenn in Zukunft Menschen glauben, der Besuch einer Ausstellung auf virtuelle Art und Weise reiche aus, um den ideellen Wert der Kunstwerke zu erfassen. Hingegen bin ich sicher, dass jeder kunstinteressierte Mensch weiß, dass das nur die Begegnung mit dem Original leisten kann.
NB & HK: Befürchtest du, dass durch die Schließung von Museen, Kunstvereinen und anderen Kunstinstitutionen eine Art Gewöhnungseffekt eintreten könnte? Das heißt, dass nach dem Hochfahren des Kulturbetriebs das Interesse am Besuch von Ausstellungen und Veranstaltungen generell nachlassen könnte, oder glaubst du eher, dass dann der Hunger nach unmittelbar erlebbarer Kunst und vielleicht auch nach neuen Ideen der Kunstvermittlung spürbar wird?
MB: Meiner Erfahrung nach war das Interesse für Kunst, nicht nur für zeitgenössische Kunst, noch nie so groß wie heute. Von daher bin ich optimistisch und denke, dass zwar am Anfang, wenn wir die Kunsthalle Lingen wieder öffnen können, erst mal wenige Menschen kommen, denn viele haben zu Recht Angst. Aber wenn im Zuge vieler Lockerungen die Infektionszahlen nicht erneut steigen, und wenn erstmal Medikamente und vor allem ein Impfstoff gegen das Virus entwickelt wurde, kann sich das positiv auf die Kunst- und Kulturszene auswirken. Dann sind auch die Erfahrungen mit einem für jede Institution anderen und individuell sinnvollen Umgang der Nutzung digitaler Medien gestiegen, und auch das kann dazu führen, dass Menschen real erfahren wollen, auf welche Art und Weise Kunst Aspekte der Welt reflektiert.
NB & HK: Liebe Meike, wir danken dir für das Gespräch.
Seit dem 12. Mai 2020 ist die Kunsthalle Lingen wieder geöffnet. Noch bis zum 16. August 2020 läuft die Ausstellung „Bettina von Arnim. Die Cyborgs und ihre Spuren“. Außerdem zu sehen: „Helga Fanderl. Konstellationen“ (bis 16. August 2020).
Di – Fr 10 – 17 Uhr
Sa – So 11 – 17 Uhr
www.kunsthallelingen.de