Die Ausstellung „Pictured as a Poem“ im Düsseldorfer KAI10 versammelt acht vorwiegend jüngere künstlerische Positionen im Spannungsfeld von Kunst und lyrischer Sprache
„Language Is a Virus From Outer Space“, so lautet der Titel eines Songs der amerikanischen Musikerin und Performerin Laurie Anderson aus dem Jahr 1986. Die Avantgardistin Anderson, die sich mit diesem Text wiederum auf eine Formulierung des Beat-Poeten William S. Burroughs bezog, wonach Sprache ein außerirdisches Virus sei, das sich allerdings mit seinem Wirtstier, dem Menschen, bestens arrangiert habe, landete mit dem Song einen Hit, der sogar vom musikalischen Mainstream anerkannt wurde.
Woher kommt sprachliches Wissen, wie formt und verändert es sich, und welche Wechselbeziehungen bestehen zur visuellen Welt? In der Ausstellung „Pictured as a Poem“ im KAI10 in Düsseldorf werden jetzt zeitgenössische Kunst und lyrische Sprache zueinander ins Verhältnis gesetzt. Kuratiert wurde diese ambitionierte und vielfältige Schau von Marion Eisele, die als feste Kuratorin im Team von KAI10 tätig ist.
Dass Sprache und Kunst eine Allianz eingehen können, bewiesen schon die Arbeiten älterer Künstler*innen wie etwa die des kürzlich verstorbenen New Yorker Konzeptkünstlers Lawrence Weiner (1942-2021), dessen in markanter Schrift aufgebrachte Wortskulpturen in diversen Sprachen zu seinem Markenzeichen geworden sind. Weitere Sprachpionier*innen unter den bildenden Künstlern sind der US-Amerikaner Joseph Kosuth, das Künstlerkollektiv Art & Language oder Künstlerinnen wie Martha Rosler, Barbara Kruger und Jenny Holzer. Doch bei diesen Künstler*innen stehen in der Regel mehr der konzeptuelle, antivisualistische Ansatz oder eine dezidiert politische Aussage im Fokus: Die primär linguistisch aufgefasste Sprache ersetzt mitunter die Notwendigkeit, das Werk überhaupt auszuführen.
Die Düsseldorfer Ausstellung hingegen versammelt die Arbeiten von acht überwiegend jüngeren Künstler*innen, die eine lyrisch aufgeladene Sprache auf ganz unterschiedliche Art und Weise in ihre Bildsprache integrieren, sei es auf der Soundebene, als Texttafel, Typographie, Sprachbotschaft oder auf nahezu abstrakte Art und Weise.
So beschäftigt sich der ursprünglich aus Martinique stammende französisch-karibische Künstler Julien Creuzet, Jahrgang 1986, mit der von kultureller Hegemonie seitens Frankreichs bestimmten Kolonialgeschichte, aber auch dem aktuellen sozio-ökonomischen und ökologischen Zustand seiner Heimat im Angesicht von Menschen-, Waren- und Abfallwanderungen im Zeitalter der Globalisierung. Inmitten einer vielteiligen Installation aus „armen“, aber farbenfroh arrangierten Materialien wie Schnüren, Kabeln, Textilien, Handarbeiten, Bändern, Fischernetzen, Kunsthaar und Plastikmüll läuft ein Video, in welchem der Künstler in die Rolle eines aus Afrika verschleppten Sklaven schlüpft. Dessen Gesang in kreolischer Sprache entführt in eine hybride Welt der Voodoo-Götter und der afrikanischen Ahnen. Julien Creuzet bezieht sich in seinen Arbeiten immer wieder auf die Theorien und Werke des ebenfalls auf Martinique geborenen französischen Philosophen Édouard Glissant (1928-2011), dem Vordenker postkolonialer Diskurse, der das Phänomen der Kreolisierung folgendermaßen charakterisierte: „Es ist eine Mischung aus Kunst, Gebräuchen und Sprachen, aus der das Unvorhersehbare entsteht“.
Julien Creuzet ist in den letzten Jahren im internationalen Ausstellungskontext immer wieder prominent vertreten gewesen. So etwa 2020 auf der Manifesta in Marseille. Zur Zeit sind Arbeiten in der Nominierten-Ausstellung zum Prix Marcel Duchamp im Centre Pompidou in Paris zu sehen. Außerdem hat Creuzet als Gewinner der BMW Art Journey 2021 im vergangenen Sommer einen mehrmonatigen Karibikaufenthalt angetreten, der ihn unter anderem auch nach Martinique zurückführt, um in seiner früheren Heimat erstmals vor Ort künstlerisch zu arbeiten.
Die indische Künstlerin Himali Singh Soin, Jahrgang 1987, lebt in London und Delhi. Sie bewegt sich zwischen Bildender Kunst, Film, Musik und Literatur. Ihre Texte verfasst sie vorzugsweise als Briefgedichte. Sie greift also eine seit der Antike bekannte, in der Weimarer Klassik vorübergehend wieder beliebte, jedoch heute weitgehend in Vergessenheit geratene Textform wieder auf, um sie in die Gegenwart zu transferieren. In Düsseldorf zeigt sie ihre in eine Rauminstallation eingebettete Videoarbeit „static range“ (2020-fortlaufend). Zum Ausgangspunkt ihrer komplexen Arbeit wählte sie eine Begebenheit aus dem Jahr 1965. Angeblich hat die CIA damals im Himalaya eine atombetriebene Abhöreinrichtung zu installieren versucht, die chinesische Raketendaten abfangen sollte. Allerdings ging diese durch ein Unwetterereignis verloren. Das darin enthaltene Plutonium strahlt bis in die heutige Zeit und wird für Krebserkrankungen in der Umgebung verantwortlich gemacht. Metaphernreich und mythengeschwängert nähern sich Himali Singh Soins Arbeiten dieser Begebenheit multimedial an. Auf Text-, Bild- und Tonebene werden verschiedene Mythen, eine über 40 Jahre zurückliegende Wanderung ihres Vaters durch das damals offene Schutzgebiet, aber auch musikalische Traditionen angesprochen. Die Künstlerin hat mit dem 1985 in Freiburg geborenen Komponisten David Soin Tappeser zusammengearbeitet. Dieser hat auch Elemente uigurischer Musik in seine Auftragskomposition eingewebt. Insofern werden auch hochaktuelle politische Konflikte von der Rauminstallation thematisiert. Zudem ist die Arbeit auch partizipativ aufgeladen. Besucher der Ausstellung sind eingeladen, in ausgedruckter Form ausliegende fiktive Briefe der „Spionin“ an die „Bergin“ in bereit gelegte Briefumschläge zu stecken, diese mit den eigens von der Künstlerin gestalteten Briefmarken zu versehen und an Freunde und Verwandte zu verschicken.
Die Düsseldorfer Künstlerin Thyra Schmidt, Jahrgang 1974, hat in der Fotoklasse von Thomas Ruff studiert. Sie kombiniert in ihren Arbeiten typographisch umgesetzte, selbstverfasste Texte mit fotografischen oder filmischen Werken. In ihren Texten geht es um zwischenmenschliche Beziehungen, Nähe und Distanz, scheinbar belanglose kleine Begebenheiten und Alltagsdialoge. Die grob gerasterten Siebdrucke aus der Serie „Rendezvous“ (2018/2019) zeigen zehn verschiedene Schnittblumen in Vasen. Den Fotografien vorangestellt ist allerdings ein kleiner Text, der aus einer Vielzahl aneinandergereihter narrativer Sätze besteht, die wie kurze Fragmente aus Prosatexten, teilweise auch wie Romananfänge wirken. Thyra Schmidt erzeugt durch die Kombination aus Texten und Fotografien eine ambivalente atmosphärische Aufladung und eröffnet den Betrachter*innen so ganz eigene, höchst individuelle Wahrnehmungsmomente.
Die französische Künstlerin Sophie Calle, Jahrgang 1953, ist bekannt für ihre autobiografischen Erzählungen mit dem Charakter von Detektivgeschichten. Dabei bleibt indes unklar, was wahr ist, was fiktiv und was re-enacted. Die in Düsseldorf gezeigte Arbeit mit dem langen Titel „Take care of yourself. Graduate of the Ecole Normale Supérieure, Mazarine Pingeot | Prenez soin de vous. Normalienne, Mazarine Pingeot“ (2007) geht auf eine Trennungsmail zurück, die Sophie Calle von ihrem Ex-Partner, dem Autor Grégoire Bouillier, erhalten hat. Sie endete mit dem herablassenden Satz: Pass gut auf dich auf. Sophie Calles künstlerische Reaktion darauf ist von ihrer feministischen Grundhaltung geprägt. Sie hat 107 ganz unterschiedliche Frauen gebeten, diese nüchtern und gefühllos gehaltene Trennungsmail auf ihre ganz individuelle Art und Weise zu interpretieren. Und zwar in ihrer jeweiligen Rolle als Psychoanalytikerin, Tänzerin, Kuratorin, Werbefachfrau oder Komponistin – um nur einige Beispiele zu nennen. Das gesamte Konvolut war auf der Biennale Venedig 2007 im Französischen Pavillon gezeigt worden. In der Ausstellung „Pictured as a Poem“ ist nun, quasi als Auskoppelung der Installation, allein die Interpretation der Journalistin und Schriftstellerin Mazarin Pingeot, Jahrgang 1974, der Tochter François Mitterrands aus einer jahrzehntelang geheimgehaltenen Beziehung, zu sehen. Die Arbeit besteht aus einer Fotografie, die die Autorin auf einer Fensterbank sitzend allem Anschein nach beim Lesen der ausgedruckten Trennungsmail zeigt. Ihre auf acht Schreibmaschinenseiten ebenso sprachanalytische wie mit feinem Humor und subtilem Spott durchsetzte Analyse wiederum wird Blatt für Blatt in einem Rahmen präsentiert.
In der mehrteiligen Arbeit „The Pirates’ Who’s Who“ des in Berlin lebenden französischen Künstlers Saâdane Afif, Jahrgang 1970, geht es um Piraterie und Sprache. In Dutzenden gewissermaßen zwischen High & Low oszillierenden Büchern versammelt sind Mythen, Verklärungen, historische Tatsachenberichte, Kolportagen und Räuberpistolen. Zu sehen ist in Düsseldorf eine von sechs Versionen seiner bereits seit dem Jahr 2000 fortlaufend erweiterten Arbeit mit neueren und antiquarischen Büchern. Präsentiert werden diese auf einem Designklassiker, dem gekurvten Kunststoffregal „Lovely Rita“ des israelischen Designers Ron Arad.
Darüberhinaus hat Saâdane Afif 2019 zehn befreundete Künstler*innen eingeladen, Songtexte zum Thema Piraterie zu schreiben, darunter berühmte Kolleg:Innen wie Rosa Barba, Simon Denny und Dominique Gonzalez-Foerster. Auch diese werden in Düsseldorf präsentiert. Ein Höhepunkt im Veranstaltungsprogramm der Ausstellung war dann auch Mitte November ein Konzert der belgischen Band DWARF LIFT DWARF, die die Texte vertont hat. Ein eigens für das Konzert gestaltetes Plakat mit motivischen Anleihen an ein frühes Plattencover des kalifornischen Künstlers Raymond Pettibon weist in der Ausstellung darauf hin.
Die US-amerikanische Künstlerin Sharon Hayes, Jahrgang 1970, setzt sich in ihren Performances mit Privatem und der Öffentlichkeit auseinander sowie mit der Sprache des Protests. Gezeigt wird die Fünf-Kanal-Sound-Installation „Everything Else Has Failed! Don’t You Think It’s Time For Love?“, die fünf sprachbasierte Performances vereint, die die Künstlerin im Jahr 2007 vor dem Hochhaus der Schweizer Großbank UBS in Manhattan aufgeführt hat. Darin zitierte sie aus Liebesbriefen von Paaren, die während des Irak-Krieges gezwungenermaßen getrennt waren. Vor dem Hintergrund der Finanzkrise und anderen Krisenzeiten nimmt sie in ihren Aktionen und Plakaten die Ästhetik der studentischen Protestbewegungen aus den 1970er Jahren etwa in Berkeley, Kalifornien auf.
Die in Köln und auf Sardinien lebende Künstlerin Sarah Kürten, Jahrgang 1983, zeigt Bildtexttafeln, die auf dem Collageprinzip basieren. Bei ihr geht es um soziale Zustände, klischeehafte Geschlechterdarstellungen und die Rolle der Frau in der Gesellschaft, durchaus aber auch mit Anspielungen auf sich selbst und die Frauen in ihrer Familie. Für ihre dreiteilige Arbeit „THE POET (without them he could not have written a line of his work) aus dem Jahre 2020 verwendet sie Bildmaterial der in den 1960er Jahren in progressiv-liberalen Kreisen beliebten Lifestyle-Zeitschrift Twen, deren einst vielleicht hippes Frauenbild aus heutiger feministischer Sicht jedoch seltsam antiquiert wirkt. Vorlagen ihrer in Pastelltönen gehaltenen, großformatigen Tintenstrahldrucke bilden stets DIN A4-Blätter, die sie dann vergrößert.
Mit Collagen der früh verstorbenen italienischen Künstlerin und Poetin Ketty La Rocca (1938-1976) wird die Künstlerliste in Düsseldorf noch um eine wichtige historische Position erweitert. Ihre hochästhetischen Werke sezieren die Werbesprache und -Motive ihrer Zeit aus feministischer Sicht und konfrontieren sie mit konkreter Poesie. Sie sind in den letzten Jahren immer wieder im Ausstellungsbetrieb und auf Messen aufgefallen. La Roccas Fotografien von Händen, die zwischenmenschliche Situationen auch ohne Worte ausdrücken, sollen, so die Kuratorin Marion Eisele, innerhalb der gesamten Ausstellung so etwas wie einen Ankerpunkt bilden.
So zeigt „Pictured as a Poem“, dass die Verwendung von lyrischer Sprache den Kunstwerken nicht nur eine weitere inhaltliche Bedeutungsebene hinzufügen kann, sondern immer wieder auch den Ausgangspunkt für neue und innovative Formen der Bildfindung darstellt. „Language Is a Virus From Outer Space“ sang einst Laurie Anderson. Sich mit Sprache auseinanderzusetzen, sie sich anzueignen, sie zu analysieren, sezieren und immer wieder auf den Prüfstand ihrer gesellschaftlichen Implikationen zu stellen und sie in visuell ansprechende und überzeugende Werke zu übersetzen, ist aber auch das Anliegen vieler jüngerer Künstler*innen, wie die Ausstellung „Pictured as a Poem“ eindrucksvoll unter Beweis stellt.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Pictured as a Poem
Ort: KAI10 | Arthena Foundation Düsseldorf
Zeit: bis 23. Januar 2022, Di – So 11-17 Uhr, Feiertags geschlossen
Bitte informieren Sie sich über mögliche pandemiebedingte Änderungen auf der Website
Begleitbroschüre: 22 S., kostenlos
www.kaistrasse10.de