Das Festival düsseldorf photo+ widmet sich mit über 50 Ausstellungen dem Medium Fotografie. Damit und mit anderen Neuerungen positioniert sich Düsseldorf als selbstbewusste Bewerberin für den inoffiziellen Titel deutsche Fotohauptstadt
Darüber, welche deutsche Metropole sich mit Recht das Etikett „Fotostadt“ ans Revers heften darf, wird immer wieder gestritten. Ist es Essen mit der renommierten Folkwangschule und der hochkarätigen Sammlung im gleichnamigen Museum oder etwa Hamburg mit seiner langen Magazin-Tradition und den vielen Verlags- und Medienhäusern, das gleichzeitig aber auch eine gewisse Vorliebe für die bloß angewandte Fotografie hegt. Oder dann doch Düsseldorf mit dem berühmten Fotografenehepaar Bernd und Hilla Becher, das eine eine weltweit geschätzte konzeptuelle Schule sowie eine ganze Reihe bekannter Absolvent:innen wie Andreas Gursky, Thomas Ruff, Thomas Struth, Candida Höfer oder Simone Nieweg hervorgebracht hat?

Nontsikelelo “Lolo” Veleko, Nonkululeko, 2003. Credit (c) Nontsikelelo “Lolo” Veleko. Courtesy Nontsikelelo “Lolo” Veleko, The Walther Collection, Neu-Ulm/New York, Goodman Gallery, Johannesburg
In der nordrhein-westfälischen Landeshauptstadt ist man sich da ganz sicher: Das international anerkannte deutsche Zentrum der gegenwärtigen Fotokunst befindet sich genau hier. Ausgestattet mit so viel Selbstbewusstsein, veranstaltet die Stadt Düsseldorf nun zum zweiten Male die düsseldorf photo+ – Biennale for Visual and Sonic Media. Die Premiere vor zwei Jahren wurde aufgrund des damaligen Lockdowns gleich nach der Eröffnung wieder geschlossen. In rund 50 Museen und Galerien, Off Spaces und Projekträumen, im Kino und in der Hochschule finden bis zum 19. Juni Ausstellungen, Vorträge, Streamings, Filmvorführungen, Panels, Workshops und Talks rund um die Fotografie und Medienkunst statt. Das „+“ nämlich steht für die grundsätzliche Offenheit der Biennale für sämtliche Bildmedien und audiovisuellen Formen. Der Düsseldorfer Galerist und Mitinitiator des Veranstaltungsreigens, Rupert Pfab, spricht in diesem Zusammenhang daher lieber von „time and lens based media“.

Slavs and Tatars, Love Me, Love Me Not: Changed Names (Mirror version), 2013
Serie von 10 Spiegeln
Gefärbtes Spiegelglas, Acrylfarbe und goldener Aluminiumrahmen
je 85 x 60 cm
courtesy Onestar Press, Paris
© Slavs and Tatars
Eine der Hauptausstellungen der Biennale findet in der Akademie-Galerie – Die neue Sammlung am Burgplatz unweit des Rheinufers statt. Kuratiert wurde die Gruppenschau mit 16 Positionen von Pola Sieverding und Asya Yaghmurian. Auch Sieverding gehört zum dreiköpfigen Leitungsteam der Biennale. Die klar strukturierte und keineswegs unnötig überladene Schau trägt den Titel „Think We Must“ („Denken müssen wir“). Dieser ist einem 1938 erschienenen Essay der britischen Schriftstellerin und Dramatikerin Virginia Woolf (1882-1941) entnommen, in welchem diese auf die Frage antwortete, wie sollen wir Ihrer Meinung nach einen Krieg verhindern? Das Konzept der Ausstellung ist zwar bereits vor dem Überfall Russlands auf die Ukraine entwickelt worden. Dennoch erhält die Präsentation durch die Kriegshandlungen eine bedrückende Aktualität. Eine der Leitfragen der beiden Kuratorinnen lautet, welche Antworten uns Bilder liefern, „wenn wir sie durch das Prisma der Geschichte betrachten, uns also näher mit den Kontexten, in welchen sie entstanden sind, beschäftigen.“

Adrien Missika, We Didn’t Cross the Border, the Border Crossed Us, 2014
Aus der Serie von 16 schwarzweißen Laserdrucken in schwarz gefassten Eichenholzrahmen
je 49 × 34,2 × 3 cm
© Adrien Missika
Insofern sind zum Beispiel die hochästhetischen Schwarz-Weiß-Aufnahmen von mehr als 150 Jahre alten Kakteen, die der französische Künstler Adrien Missika, Jahrgang 1981, unter dem Titel „We Didn’t Cross the Border, the Border Crossed Us“ (2014) zeigt, keine reinen Pflanzenfotografien sondern hochpolitisch. Der einem Film von Robert Rodriguez entlehnte Titel deutet es an: die stacheligen Gewächse sind durch die Verschiebung der Grenzen im Amerikanisch-Mexikanischen-Krieg (1846-1848) unfreiwillig von Mexikanern zu US-Amerikanern geworden.
Ein ähnliches Phänomen untersuchen auch die Arbeiten aus der Serie „Love Me, Love Me Not“ (2020) des Berliner Künstlerkollektivs Slavs and Tatars. Auf spiegelnden Oberflächen präsentieren diese die Namen von Orten aus dem eurasischen Raum, die im Zusammenhang mit der Entstehung, den unterschiedlichen geschichtlichen Phasen und dem Zusammenbruch der Sowjetunion sowie den imperialistischen Bestrebungen des heutigen Russlands immer wieder entsprechend den Machtverhältnissen geändert wurden. Angesichts des Ukraine-Konfliktes ist auch dies eine hochaktuelle Arbeit.

Estefania Landesmann: „Retrato (Cuerpo de Obra)“, 2015, Foto: Heiko Klaas
Ganz andere Fragen untersucht etwa die 2015 entstandene Arbeit „Retrato (Cuerpo de Obra)“ der Argentinierin Estefania Landesmann, Jahrgang 1983. Im Ausstellungsraum zu sehen ist ein eher an ein Werk der Minimal Art erinnernder Stapel von 9.000 Offsetdrucken. Landesmann hat das Porträt einer Person in an- und abschwellenden Farbintensitäten drucken lassen. Dadurch, dass wir aber nur die unterschiedlich hellen oder dunklen Ränder der bedruckten Seiten sehen, können wir nur erahnen, dass sich das eigentlich gültige Bild ganz im Zentrum des Stapels befindet. Allein – wir werden es nie zu Gesicht bekommen. Zeigen und Verbergen, Werden und Vergehen sowie die Frage nach dem Porträt an sich werden hier in nahezu philosophischer Art und Weise zum Gegenstand der Betrachtung gemacht.

Hito Steyerl, November, 2004, Videostill, einkanalig mit Ton Credit Courtesy Hito Steyerl, Andrew Kreps Gallery, New York and Esther Schipper, Berlin (c) Hito Steyerl, VG Bild-Kunst, Bonn, 2022
Eine aufschlussreiche Wiederentdeckung stellt schließlich die Videoarbeit „November“ (2004) von Hito Steyerl dar. Sie beruht auf Super-8-Filmen, die die damals 17-Jährige in den 1980er Jahren gedreht hat. Im Stil eines feministischen Kung-Fu-Films voller cooler Gesten und Filmzitate sind unter anderem Steyerl und ihre damalige Jugendfreundin Andrea Wolf zu sehen. Wolf bewegte sich später im Umfeld der RAF und an der Seite des kurdischen Widerstands. Bei einem Gefecht mit der türkischen Armee kam sie schließlich 1998 unter bis heute nicht ganz aufgeklärten Umständen ums Leben. Die Arbeit stellt unter anderem Fragen nach den Kippmomenten in politischen Biografien, feministischem Empowerment und dem Umschlagen eines zunächst spielerisch aufgefassten Protestvokabulars in mitunter blutigen Ernst.

Natalie Czech, Fact: True Fact, 2020
aus der Serie „Cigarette Ends“
Archival Pigment Print
105 × 74 cm
courtesy Galerie Kadel Willborn, Düsseldorf
© Natalie Czech
Natalie Czech wiederum lässt Zigarettenstummel sprechen. Für ihre konzeptuelle Serie „Cigarette Ends“ (2019/2020) fotografierte sie partiell aufgerauchte Zigaretten mit so klangvollen Namen wie Vanguard, Vision, Star oder Rebel in Anordnungen, die kleinen Gedichten entsprechen. Stilmittel der Werbefotografie, der Konzeptkunst und der Konkreten Poesie werden hier elegant miteinander verschmolzen.

Dialoge im Wandel. Fotografien aus The Walther Collection #6 Samuel Fosso, Self-Portrait [Selbstporträt] (Angela Davis), 2008 (c) Der Künstler. Courtesy der Künstler, Jean Marc Patras, Paris und The Walther Collection, Neu-Ulm/New York.
Eine andere Großausstellung, die mehr als 500 Fotografien überwiegend aus Afrika versammelt, zeigt die Kunstsammlung Nordrhein-Westfalen in ihrem ganz der Kunst der Gegenwart gewidmeten Ausstellungshaus K21. „Dialoge im Wandel – Fotografien aus The Walther Collection“ lautet hier der Titel. Im Zentrum der Schau steht die umfangreiche und weltweit wohl einmalig qualitätsvolle Sammlung zeitgenössischer afrikanischer Fotografie von Artur Walther. Der Deutsch-Amerikaner Artur Walther, Jahrgang 1948, begann nach einer erfolgreichen Karriere im New Yorker Finanzwesen, Ende der 1990er Jahre mit dem Aufbau einer in erster Linie auf asiatische und afrikanische Fotografie- und Videokunst konzentrierten Sammlung, welche heute in einem Project Space in New York und einem Privatmuseum im schwäbischen Neu-Ulm gezeigt wird. In enger Zusammenarbeit mit dem 2019 verstorbenen documenta-11-Leiter Okwui Enwezor trug Walther eine außergewöhnliche Sammlung mit vielen im Westen bislang noch weitgehend unentdeckten Meisterwerken afrikanischer Fotografie zusammen. Im K21 zu sehen sind überwiegend Porträtfotografien und Inszenierungen des Selbst im Kontext politisch-sozialer Verhältnisse und Emanzipationsbestrebungen. Spannend an der Ausstellung sind auch die Gegenüberstellungen westlicher und afrikanischer Fotografen.

Dialoge im Wandel. Fotografien aus The Walther Collection #12 J.D. ‚Okhai Ojeikere, Hairstyles, 1970–1979. Courtesy Galerie MAGNIN-A, Paris und The Walther Collection, Neu-Ulm/New York.
So treffen etwa August Sanders (1876-1964) unter dem Titel „Antlitz der Zeit“ in der Weimarer Republik entstandene berühmte Porträts seiner Zeitgenossen aus den unterschiedlichsten Berufen und gesellschaftlichen Schichten auf Studioaufnahmen des malischen Fotografen Seydou Keïta (1923-2001), die vom wachsenden Selbstbewusstsein und dem Kosmopolitismus der Porträtierten angesichts der Unabhängigkeit des Landes zeugen. Dass typologisch-serielle Herangehensweisen, wie sie als typisch für die Düsseldorfer Becher-Schule angesehen werden, durchaus auch Pendants in Afrika hatten, bezeugt die Gegenüberstellung von den Aufnahmen amerikanischer Getreidesilos von Bernd und Hilla Becher mit den Aufnahmen des nigerianischen Fotografen J.D.’Okhai Ojeikere (1930-2014). Dieser hat im Laufe von vier Jahrzehnten mehr als 1.000 Hinterköpfe afrikanischer Frauen mit den unterschiedlichsten kunstvoll geflochtenen Frisuren fotografiert und auf diese Weise ein einzigartiges Inventar ebenso skulpturaler wie vergänglicher Haargestaltung angefertigt.
Darüberhinaus reicht das Spektrum der ausgestellten Werke von ethnografischen Fotografien aus der Kolonialzeit über die mittlerweile zu Ikonen gewordenen Selbstinzenierungen aus der Serie „African Spirits“ (2008) des 1962 in Kamerun geborenen Samuel Fosso, der sich in Rolle schwarzer Freiheitskämpfer:innen wie Angela Davis, Malcolm X oder Nelson Mandela begeben hat. Ganz aktuelle Arbeiten jüngerer Künstler:innen, die vor der Folie postkolonialer Diskurse entstanden sind, schlagen die Brücke in die Gegenwart.

Astrid Busch, Viking Venus #03, 2022, Archival Pigment Print, 74 x 50 cm, Credit Courtesy Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf (c) Astrid Busch
Daneben beteiligen sich aber auch zahlreiche Galerien an der Biennale. So auch die in der Birkenstraße im bei Galerist:innen beliebten Stadtteil Flingern gelegene Galerie Rupert Pfab. Gezeigt werden hier gleich zwei Ausstellungen. So sind im Erdgeschoss in der Schau „Viking Venus“ Fotoarbeiten und Skulpturen von Astrid Busch, Jahrgang 1968, zu sehen. Aufnahmen, die sie während eines Stipendiums im Istanbuler Stadtraum von moderner und traditioneller Architektur sowie von Fundstücken gemacht hat, unterzieht Astrid Busch einem komplexen Transformationsprozess, der reale und künstlich erzeugte Bildebenen miteinander amalgamiert und die Endergebnisse nahezu wie Malerei erscheinen lässt oder diese sogar in dreidimensionale Formen (rück-)übersetzt. Als Bildträger dienen teils ungewöhnliche Materialien wie papierdünn ausgewalzte Weißgoldbleche oder Jacquardgewebe.

Angelo Novi: Marcello Mastroianni, Film: Cronaca Familiare, Regisseur: Valerio Zurlini, Jahr: 1962, Technik: Fotografie auf Baryt, Größe: 40 x 60 cm, Courtesy Galerie Rupert Pfab, Düsseldorf
Kontrastprogramm im Untergeschoss: Hier zeigt Rupert Pfab schwarz-weiße Filmsetfotografien, die der italienische Fotograf Angelo Novi (1930-1997) während der Dreharbeiten zu diversen Filmen von Sergio Leone, Bernardo Bertolucci oder Pier Paolo Pasolini von Filmgrößen wie etwa Marcello Mastroianni, Marlon Brando oder Maria Schneider gemacht hat. Das, was die bewegten Kinobilder verschweigen, die kleinen Begegnungen und Begebenheiten am Rande der Dreharbeiten steht im Mittelpunkt dieser stillen Aufnahmen.

Marge Monko: Window Shopping, Courtesy Galerie Cosar, Düsseldorf
Ein paar Häuser weiter hat die Galerie COSAR ihre neuen Räumlichkeiten in einem ehemaligen Möbelgeschäft mit großen Schaufensterflächen bezogen. Dazu sehr gut passend zeigt die estländische Künstlerin Marge Monko, Jahrgang 1976, unter dem Titel „Window Shopping“ sequentiell gereihte Aufnahmen von Schaufenstern und Warenauslagen, die sie in Antwerpen, New York oder ihrer Heimatstadt Tallinn gemacht hat.

Marge Monko: Window Shopping, Courtesy Galerie Cosar, Düsseldorf
Doch es geht ihr keineswegs um eine hübsch affirmative Katalogisierung von Tendenzen der Warenpräsentation. Marge Monko konfrontiert diese Bilder mit verschütteten Erinnerungen in Form von Schwarz-Weiß-Aufnahmen zerstörter Schaufenster, die sie im Internet erworben hat. Dieser Strategie geht ihre Beobachtung voraus, das Schaufenster im Zuge gesellschaftlicher Unruhen und Umstürze stets unter den ersten Angriffszielen sind. Zu sehen sind Aufnahmen mit klaren Bezügen zu konkreten geschichtlichen Ereignissen, etwa zum Estnischen Freiheitskrieg 1919 oder zur Reichspogromnacht 1938 aber auch solche, die nicht eindeutig zugeordnet werden können. So entsteht aus der Gesamtheit der hier gezeigten selbsterzeugten und gefundenen Bilder ein komplexes fotografisches Narrativ mit Bezügen zur Psychoanalyse, zu feministischer Theorie und visuellen Traditionen der Schaufensterfotografie. Diese reicht, um nur einige Beispiele zu nennen, von den frühen Aufnahmen Eugène Atgets über Berenice Abbott und Andy Warhol bis hin zu Josephine Meckseper.

Man Ray: Portfolio Femmes, 1933, Courtesy Galerie Linn Lühn, Düsseldorf
Noch etwas historischer sind die 26 Abzüge aus dem von Studio Marconi, Mailand herausgegebenen Portfolio „Femmes“ (1933/1981) von Man Ray (1890-1976), die Linn Lühn wenige Häuser weiter im Angebot hat. Auf den posthum vom Originalnegativ abgezogenen Aufnahmen zu sehen sind unter anderen enge Weggefährtinnen und Musen Man Rays wie Kiki de Montparnasse, Meret Oppenheim oder Lee Miller. Das Spektrum der Fotografien umfasst eher puristische Akte, aber auch subtilere Inszenierungen und Porträts sowie auch Bilder mit Verfremdungseffekten wie etwa Solarisationen. Das Besondere daran: Die Frauen wirken dabei keineswegs als bloß dem männlichen Blick gegenüber verfügbare erotische Objekte, sondern nehmen, erkennbar an ihren Gesten, Tätigkeiten und Gesichtsausdrücken, gegenüber dem Fotografen und den Betrachter:innen eher selbstbewusste Haltungen ein.

Man Ray: Portfolio Femmes, 1933, Courtesy Galerie Linn Lühn, Düsseldorf
Der Düsseldorfer Künstler Jan Albers, Jahrgang 1971, der in der von Daniela Steinfeld betriebenen Galerie Van Horn unter dem Titel „springbreak“ seine nunmehr sechste Einzelausstellung zeigt, ist nicht gerade als Fotograf sondern vielmehr als Erschaffer von Reliefbildern mit teils toxisch wirkenden Farbverläufen bekannt. Sein bevorzugtes Material ist Polystyrol, das er teils mit der Kettensäge oder ätzenden Chemikalien bearbeitet und anschließend mit Farbverläufen aus Sprühfarbe überzieht. Dabei heraus kommen an dystopische Szenerien erinnernde Miniaturlandschaften, die meist unter Plexiglasboxen präsentiert werden. Hier zeigt er allerdings erstmals neue, frei im Raum stehende Bronzeskulpturen mit glatten überhaupt nicht zerklüfteten goldenen Oberflächen. Was das Ganze mit Fotografie zu tun hat? Albers zeigt seine Werke keineswegs im White Cube. Als Hintergrund verwendet er hier wandfüllende Fototapeten, die Schwarz-Weiß-Aufnahmen eigener Ausstellungen in Institutionen oder auch ein Möbelensemble von Mies van der Rohe zeigen. Wenn bildhauerisches Material ein Gedächtnis hat, so hat es die Fotografie erst recht. Das Aufeinandertreffen der an sich sehr unterschiedlichen Medien in dieser Ausstellung führt insofern zu produktiven Synergieffekten, die diskurserweiternd für beide Gattungen sind.

Ausstellung von Jan Albers in der Galerie Van Horn, Courtesy Galerie Van Horn
Weiter zur alten Garde der Düsseldorfer Galerienszene, der Konrad Fischer Galerie in der nahegelegenen Platanenstraße. Deren Direktor Thomas W. Rieger komplettiert das dreiköpfige Leitungsteam der Biennale, welches noch durch die Projektleiterin Ljiljana Radlovic ergänzt wird. In Formation fliegende Bomberstaffeln, jubelnde Volksmassen mit in die Luft gereckten Diktatorenporträts oder eine Gruppe einfacher Rotarmisten, die mit ihren Gewehren in die Luft zielen. Von beängstigender Aktualität sind einige Aufnahmen aus der neuen Serie „tableaux russes and tableaux chinois“ von Thomas Ruff. Auf der Grundlage von sowjetischen und chinesischen Propagandaaufnahmen, die er in historischen Bildbänden oder Magazinen findet, schafft Ruff im Zuge digitaler Bearbeitungs- und Verpixelungsprozesse großformatige Bilder, die das Missverhältnis zwischen Anspruch und Wirklichkeit, Repräsentation und Realität solcher der Agitation und Manipulation der einfachen Bevölkerung dienenden Zweckaufnahmen kritisch hinterfragen.

Thomas Ruff, tableau russes_01, Credit (c) Thomas Ruff / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Ganz am Anfang der Birkenstraße hat die Galerie Kadel Willborn gleich vier Positionen aus ihrem Programm in der Ausstellung „Is it true?“ zusammengeführt: Natalie Czech, Jan Paul Evers, Barbara Kasten und Kathrin Sonntag. Die sozusagen seit seiner Erfindung über dem Medium Fotografie liegende Frage nach ihrem Wahrheitsgehalt dient hier als Klammer für sehr unterschiedliche künstlerische Herangehensweisen. Die bereits eingangs als Teilnehmerin der Gruppenausstellung „Think We Must“ erwähnte Natalie Czech „findet“ beziehungsweise arrangiert einmal mehr Anagramme und Poeme aus Beschriftungen von profanen Gebrauchsgegenständen wie Bleistiften und Obstmessern, oder aber sie arrangiert das Magnetband aus einer Audiokassette zu den Worten einer Songzeile, die wiederum auf dem Magnetband abgespeichert ist. In konzeptuellen Auswahl- und Rückkoppelungsakten macht sie so Unsichtbares sichtbar oder stellt Bedeutung aus scheinbar Bedeutungslosem her.

Natalie Czech: Olson Cassette, Courtesy Galerie Kadel Willborn, Düsseldorf
Jan Paul Evers, Jahrgang 1982, wiederum verbindet in seiner Praxis digitale Bildbearbeitungsmethoden mit klassisch-analoger Dunkelkammerarbeit. Dabei heraus kommen Arbeiten wie das 175 x 130 cm messende Unikat „Protest is part of our brand“ (2017), ein Silbergelatine-Print auf Barytpapier. Bilder ganz unterschiedlicher politischer Demonstrationen werden hier zu einem scheinbar stimmigen Bild im Stil gängiger Agenturfotografie zusammengeführt. Bei genauem Hinschauen sieht man aber zum Beispiel, dass eine männliche Person gleich zweimal auftaucht.

Jan Paul Evers: Protest is Part of our Brand, Courtesy Galerie Kadel Willborn, Düsseldorf
Die US-Amerikanerin Barbara Kasten, Jahrgang 1936, seit den 1970er Jahren bekannt für ihre in der Regel sehr farbigen Arrangements unter Einsatz verschiedener industrieller Materialien, Filterfolien und Lichtquellen, ist hier mit Schwarz-Weiß-Aufnahmen aus ihrer Serie „Double Negatives“ vertreten. Die Frage „Is it true?“ lässt sich hier ganz einfach mit „Nein“ beantworten, denn Barbara Kasten hat hier das klassische Dunkelkammerverfahren der Umkehrung (Inversion) angewandt, bei dem das Negativ wie ein Diapositiv abgezogen wird. Das Resultat: Was in Wirklichkeit hell ist, erscheint hier dunkel und umgekehrt.

Kathrin Sonntag: Sonntags Atlas #13, Courtesy Galerie Kadel Willborn, Düsseldorf
Kathrin Sonntag, Jahrgang 1981, schließlich arrangiert in ihrer Serie „Sonntags Atlas“ (2019/2020) selbst produziertes und gefundenes visuelles Material zu rätselhaften Paarungen, die bei genauerem Hinschauen scheinbar Ähnliches als vollkommen Gegensätzliches, scheinbar Arrangiertes aber wiederum als Fundstück aus der Realität zeigen.

Natascha Borowsky: echo F013
2017
40 x 30 cm
analoges Fotogramm
© Natascha Borowsky / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Courtesy Galerie Franz Swetec
Im sechsten Stockwerk eines Bürogebäudes in der Kasernenstraße in der Düsseldorfer Innenstadt zeigt die Becher-Schülerin Natascha Borowsky, Jahrgang 1964, ältere und neuere Arbeiten ihrer Einzelausstellung mi dem Titel „Fuge“ in der Galerie Franz Swetec. Zu sehen sind Fotografien von schwer definierbaren Fundstücken auf verschiedenen selbst hergestellten Fonds, farbige Fotogramme sowie eine Serie, die während eines Stipendienaufenthalts in Paris entstanden ist. Hier kombiniert Natascha Borowsky farbige Aufnahmen aus dem Botanischen Garten mit Rückenansichten von klassischen Skulpturen in Schwarz-Weiß.

Natascha Borowsky: dyade 01
2019
60 x 80 cm
Pigmentdruck
© Natascha Borowsky / VG Bild-Kunst, Bonn 2022
Courtesy Galerie Franz Swetec
Die digitalen Pigmentdrucke haben eine malerische Qualität. Natascha Borowsky interessiert sich dabei sowohl für die Spuren der Verwitterung beziehungsweise des Verwelkens als auch für den formalen Aspekt der Kategorisierung in unterschiedlichen Ordnungssystemen.

Manfred Holtfrerich, Berg grün, 2019, 200 x 140 x 3,5 cm, Laserpigmentdruck auf Aluminiumwabenplatte, Credit © Manfred Holtfrerich
Wer einen Ausflug in das im Norden Düsseldorfs gelegene idyllische Kaiserswerth direkt am Rheinufer unternimmt, kann in der Galerie Ute Parduhn aktuelle Arbeiten des Hamburger Konzeptkünstlers Manfred Holtfrerich, Jahrgang 1948, in Augenschein nehmen. Manfred Holtfrerich hat Schwarz-Weiß-Aufnahmen von Bergmassiven des Himalaya und der Alpen aus antiquarischen Bildbänden gesichtet, daraus Ausschnitte bestimmt, diese vergrößert und durch die Anwendung von Farbfiltern monochrom eingefärbt. Dabei interessiert er sich nicht für die Natur an sich, sondern sieht diese als vorgegebene Bildfindung, die er als „richtig“ empfindet und sich künstlerisch aneignet.

Manfred Holtfrerich: aus der Serie Ästhetische Theorie in Farbe und SchwarzWeiss. Textbilder (Adorno) © Manfred Holtfrerich
In einer anderen Serie visualisiert er seine Leseerfahrungen mit Theodor W. Adornos Klassiker „Ästhetische Theorie“. Einzelne Seiten sind groß aufgezogen und einzelne Textpassagen mit Textmarkerfarben unterlegt oder mit handschriftlichen Anmerkungen versehen. Ästhetisch-kühl in Schwarz-Weiß kommt dann seine Serie „Les mains des femmes“ (2021) daher. Auch hier geht es um die künstlerische Aneignung eines Zeitdokuments, diesmal von Motiven aus einem alten französischen Hauswirtschaftslehrbuch, auf das Manfred Holtfrerich in Paris gestoßen ist. Elegant manikürte Frauenhände stehen hier im Fokus, wie sie geradezu lehrbuchmäßig typische Verrichtungen im Haushalt ausführen. Eine Schule der, aus heutiger, insbesondere feministischer Sicht natürlich längst überkommenen und fragwürdig gewordenen, schönen Gesten, wenn die Dame des Hauses beispielsweise vorsichtig die Wäsche in die Trommel legt oder ihre Gäste stilecht mit einem Glas Champagner begrüßt. Die Serie korrespondiert allerdings auch mit der mitunter effekt- und detailverliebten visuellen Ästhetik der Nouvelle Vague, welche durch gesellschaftskritische Filme etwa von Jean-Luc Godard oder François Truffaut seit Ende der 1950er Jahre große internationale Bekanntheit erlangte.

Manfred Holtfrerich: Serie Les maines des femmes in der Galerie Ute Parduhn, Düsseldorf © Manfred Holtfrerich
Im von Künstlern betriebenen Projektraum NKR – Neuer Kunstraum, etwas abseits vom Zentrum im Stadtteil Bilk gelegen, ist die Ausstellung „Vor den Bildern. Fotografie als Inspiration“ zu sehen.

Ausstellung Vor den Bildern, Foto: Heiko Klaas
Ein vierköpfiges Kuratorenteam hat 31 Künstler:innen aus verschiedenen Generationen eingeladen, ihre Inspirationsquellen für aktuelle Arbeiten offenzulegen. Das können Fotografien, Magazine, Referenzabbildungen, Zeichnungen, Skizzen, Fundstücke oder Ähnliches sein. Alle Teilnehmenden haben einen Platz auf einem raumfüllenden 15 Meter langen Holztisch erhalten, wo er/sie diese Inspirationsquellen arrangieren konnte. Zudem läuft im Neuen Kunstraum eine Diaschau mit je drei Fotos von Werken der eingeladenen Künstler:innen. So können sich die Besucher:innen gut in den Entstehungsprozess und den ästhetischen Überbau einzelner Arbeiten hineinversetzen.

Ausstellung Vor den Bildern (Detail), Foto: Heiko Klaas
Neben bereits Etabliertem bietet düsseldorf photo+ allerdings auch dem künstlerischen Nachwuchs eine Plattform. So hat etwa der an der Kölner Kunsthochschule für Medien lehrende Düsseldorfer Licht- und Konzeptkünstler Mischa Kuball mit seinen Studierenden das Foyer und die erste Etage des 1967 errichteten und kurz vor dem sogenannten „Rückbau“ stehenden Apollo-Hochhauses an der Königsallee in Beschlag genommen. Auf mehr als 2.500 Quadratmetern zeigen Studierende aus aller Welt speziell für den Ort entwickelte Arbeiten, welche die Konsum- und Arbeitswelt thematisieren, die Natur ins Gebäude verpflanzen, virtuelle Gegenwelten entwerfen oder aber das Publikum in die Mythenwelt ferner Länder wie der Mongolei oder Nigerias eintauchen lassen.

Ausstellung „FALSE SPRING“ im Apollo-Haus, Foto: Heiko Klaas
Mit der Neueinrichtung einer Koordinierungsstelle Fotografie direkt im Kulturamt der Stadt gönnt sich Düsseldorf übrigens seit diesem Monat als einzige deutsche Metropole ein allein der Förderung dieses Mediums verschriebenes Kontaktbüro. Prominent besetzt ist die unbefristete Stelle übrigens nicht etwa mit einem Verwaltungsbeamten sondern einem bildenden Künstler. Stephan Macháč wurde 1981 in Düsseldorf geboren. Der Meisterschüler von Katharina Sieverding hat am Karlsruher ZKM und der Berliner Universität der Künste studiert. Als ehemaliger Off-Raum-Betreiber, Leiter eines Filmtheaters und Mitbegründer der Kunstkommission gilt er als bestens in der Szene vernetzt. Andernorts dürfte die Fotoszene wohl etwas neidvoll auf diese Neuerung blicken.

Künstlerbar im Projektraum La Chambre, Foto: Heiko Klaas
Auf einen Blick:
Ausstellung: düsseldorf photo+. Biennale for Visual and Sonic Media
Ort: ca. 50 Ausstellungen in Institutionen, Galerien, Off Spaces und Projekträumen
Zeit: unterschiedliche Laufzeiten, überwiegend bis 19.6.2022
Katalog: kostenloses Programmheft, 128 S.
Internet: www.duesseldorfphotoplus.de

Man Ray: Portfolio Femmes, 1933 in der Galerie Linn Lühn, Düsseldorf, Foto: Heiko Klaas