Die Gruppenausstellung „Look at Us!“ zeigt zwei Dutzend Künstler auf der Suche nach den Grundkonstanten der menschlichen Existenz
Wer bin ich und wenn ja, wie viele? Die intensive Beschäftigung mit den Themen Identität, Herkunft, Körper oder sexuelle Orientierung beeinflusst das Leben vieler Menschen – und speziell auch das Werk vieler Künstler. Gerade in Zeiten globaler Verunsicherung, massiver politischer Machtver-schiebungen, aber auch von Selfie-Wahn und fluiden digitalen Identitäten wird die Beschäftigung mit dem menschlichen Ego zu einem enorm wichtiges Thema. Eine umfassende Bestandsaufnahme menschlicher Physiognomien und Ausdrucksformen unternimmt jetzt die Gruppenausstellung „Look at Us!“ in den neuen Räumen der Berliner Gnyp Gallery. Zusätzlich zu den weiter bestehenden Galerieräumen auf einer Beletage in der Knesebeckstraße eröffnet die Charlottenburger Galerie mit dieser Ausstellung ihre gleich um die Ecke in der Hardenbergstraße zu ebener Erde und vis-à-vis von der Universität der Künste gelegenen zusätzlichen Räume. Sie sollen in Zukunft mit großen Wechselausstellungen bespielt werden, während die angestammten Galerieräume weiterhin für kleinere Studioausstellungen und als Showroom genutzt werden.
Die Darstellung der eigenen Person, aber auch von Freunden, Weggefährten, professionellen Modellen, Zufallsbekannt-schaften, berühmten Persönlichkeiten oder anonymen Gesichtern ist in der Kunst- und Fotografiegeschichte tief verankert. Man denke nur an die Porträtmalerei in der Renaissance oder das Werk des Fotografen Richard Avedon, der in den USA über Land zog und ikonische Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Landbevölkerung anfertigte.
Die menschliche Existenz steht auch im Zentrum der von Marta Gnyp zusammengestellten Schau, welche die Medien Malerei, Fotografie, Zeichnung und Skulptur umfasst. Emotion und Humor, Attribute und Objekte, Gesellschaftskritik und politischer Kommentar: In dieser vielschichtigen Ausstellung zum Thema Porträt mischen sich die unterschiedlichsten Aspekte und Menschenbilder. Gezeigt werden 24 internationale Künstler aus ganz verschiedenen Generationen.
Bereits in jungen Jahren unter bis heute ungeklärten Umständen verstorben ist die kubanisch-amerikanische Konzept- und Performance-Künstlerin Ana Mendieta (1948-1985). In der Schau zu sehen ist ihre sechsteilige Fotoarbeit „Untitled (Glass on Body Imprints)“ aus dem Jahr 1972. Sie zeigt jeweils Kopf- und Schulterpartie der unbekleideten Künstlerin, wie sie ihr Gesicht gegen eine Glasplatte drückt und so fratzenhafte Ausdrücke erzeugt. Die Künstlerin vollzieht hier ein selbst auferlegtes Martyrium vor der Kamera. Die Arbeit gilt heute als eine Ikone feministischer Kunst.
Eine fotografische Untersuchung der ganz anderen Art unternimmt die in Köln lebende Fotografin Ute Behrend, Jahrgang 1961. In ihren farbigen Diptychen aus der aktuellen Serie „Bärenmädchen“ kombiniert sie Bilder von Heranwachsenden mit Aufnahmen aus der Natur. Aufkeimende Sexualität und Verführung sind hier die Themen. Lolita-Posen treffen auf zahme Füchse, eine Aufnahme von einer Sex-Messe auf ein schwülstig aufgedonnertes Schlafzimmer, das die Fotografin in Osteuropa entdeckt hat.
Der Hamburger Künstler Jochen Lempert, Jahrgang 1958, ist bekannt für seine analoge Schwarz-Weiß-Fotografie, in der er Naturphänomene auf sensible Art und Weise analysiert. Von dem ausgebildeten Biologen zu sehen ist das Triptychon „Indianische Masken (Piranha, Jaguar, Zecke)“ als Barytabzug. Seine Masken tragen menschliche Züge und Gesichter und werden so zum Leben erweckt. Jochen Lempert fertigt jeden seiner Abzüge mit rein analogen Methoden in der Dunkelkammer. Den Vorgaben des Künstlers entsprechend werden seine Arbeiten auch hier ohne Rahmen und mit Klebeband direkt auf der Wand fixiert präsentiert. Eines wird sofort klar: Hier geht es nicht um technische Perfektion, nicht darum, das Letzte aus einem Foto herauszuholen, um den Betrachter zu überwältigen. Jochen Lempert betrachtet seine Aufnahmen eher als „Mental Images“, eine Art kognitives Depot. Die Imperfektion und das grafisch anmutende Grau der Abzüge entsprechen genau dieser Haltung. Das Einzelbild spielt nur eine untergeordnete Rolle.
Eine frühe Serie der Finnin Eija-Liisa Ahtila, Jahrgang 1959, aus dem Jahr 1997 direkt gegenüber fällt ebenfalls gleich ins Auge. Ahtila, bekannt für ihre Videos und Fotografien, in denen sie häufig psychische Störungen meist junger Frauen thematisiert, zeigt in dieser Schwarz-Weiß-Serie mit dem Titel „Casting Portrait“ junge Mädchen, die sich offensichtlich einer Casting Prozedur unterziehen. Sie posieren lässig und cool vor der Kamera, abwartend, gespannt und selbstbewusst. Sie probieren eine Rolle aus ohne Regisseur, ganz auf sich selbst zurückgeworfen – und nicht ahnend, dass das selbstverliebte Posieren vor der Smartphone-Kamera zwei Jahrzehnte später zum Massenphänomen werden sollte. Look at Us!
Zu den bekanntesten Künstlern der Ausstellung zählt auch ULAY, Jahrgang 1943, der ehemalige Partner der Performance-Künstlerin Marina Abramović. Er ist mit drei großformatigen Reprints aus der in den 1970er Jahren entstandenen Serie „Reinas sense“ vertreten. Körperbetont und erotisch, aber ebenso auch autodestruktiv und märtyrerhaft-leidend kommen die schwarz-weißen Selbstporträts daher.
Für Liebhaber der klassischen Reportage-Fotografie in Schwarz-Weiß hält die Ausstellung zwei umfangreiche Konvolute bereit. Vom Litauer Antanas Sutkus, Jahrgang 1939, zu sehen sind Werke aus der bereits mehrere Jahrzehnte umfassenden Serie „People of Lithuania“. Sutkus begann das bis heute andauernde Projekt im Jahr 1976, als Litauen noch Teil der Sowjetunion war. Im Fokus steht das ungeschönte Alltagsleben in seiner Heimat. Erst Ende Juni war er in der Berlinischen Galerie mit dem Dr.-Erich-Salomon-Preis 2017 der Deutschen Gesellschaft für Photographie (DGPh) ausgezeichnet worden. Im Jahr 1965 besuchten Jean-Paul Sartre und Simone de Beauvoir Litauen. Sutkas hatte damals Gelegenheit, einige Zeit mit den Existenzialisten zu verbringen. Seinen sensiblen Blick auf das Wesentliche des menschlichen Daseins dürfte diese Begegnung nachhaltig beeinflusst haben.
Eine weitere starke fotografische Position stellt das Werk des 1921 in Deutschland geborenen jüdischen Fotografen Clemens Kalischer dar. Er floh 1933 mit seiner Familie über Frankreich in die USA. Dort begann er seine Karriere als Fotograf unter anderem für die New York Times. Im Jahr 1955 nahm er an Edward Steichens legendärer Ausstellung „The Family of Man“ im Museum of Modern Art teil. Im Mittelpunkt seiner eindrucksvollen Aufnahmen stehen Menschen und das Alltagsleben in New York und Europa.
Die einzige Skulptur der Schau stammt von dem in Berlin lebenden kroatisch-amerikanischen Künstler Goran Tomcic, Jahrgang 1965. Für seinen „Golden David“ hat er eine 112 Zentimeter hohe Replika des David von Michelangelo mit goldfarbenen Tapes beklebt und auf einen ebenfalls goldenen Sockel gestellt. Der Kopf der Figur im glitzernden Disko-Look ist nicht zu erkennen. Ihn umgibt eine Art Wolke aus goldfarbenem Pailletten, die vielleicht nicht von ungefähr an den Bienenschwarm erinnert, der 2012 auf der dOCUMENTA (13) die „Liegende“ von Pierre Huyghe umschwärmte.
Der in Berlin lebende deutsche Maler Michael Kunze, Jahrgang 1961, ist mit gleich mehreren Gemälden vertreten. Sie zeigen mehr oder weniger erkennbare, teils verfremdete Porträts bekannter Personen. Betitelt jeweils mit dem Begriff „Cameo“ und einer Ziffernfolge, erhält der Betrachter einen dezenten Hinweis: „Cameo“ oder „Cameo Appearance“ bezeichnet den kurzen Auftritt einer prominenten Person in einem fiktiven Werk. Am bekanntesten sind wohl die Auftritte der Regisseure Alfred Hitchcock und Quentin Tarantino als Statisten in vielen ihrer Filme.
Die New Yorker Malerin Gina Beavers, Jahrgang 1974, ist bekannt für ihre Food-Porn-Bilder, deren Vorlagen sie Internet-Plattformen wie Instagram entnommen hat. Auch bei „Look at Us!“ ist sie mit zwei dieser Bilder vertreten. Außerdem zu sehen: Das Acryl-Gemälde „Skull Face“ von 2015, das die Schauspielerin Angelina Jolie im Porträt zeigt. Doch Achtung: Die linke Bildhälfte gibt den Blick auf ihr Schädelinneres frei und mutiert so zu einer bedrohlich erscheinenden Totenkopfmaske. Hollywood-Glamour trifft auf Horror.
Die Ambivalenz solcher Bilder ist charakteristisch für die Ausstellung „Look at Us!“ Auf der Suche nach Identität durchschreiten wir Glanzstunden ebenso wie Abgründe, indem wir uns und anderen den Spiegel vorhalten. Der Künstler als Seismograf mit Kamera oder Pinsel nimmt den Betrachter in der Gnyp Gallery mit auf eine Entdeckungsreise. So spannend und vielfältig, so unbeschwert und so abgründig wie das Leben selbst.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Look at Us!
Ort: Gnyp Gallery, Hardenbergstraße 9, 10623 Berlin
Zeit: bis 15. August 2017
Internet: www.gnypgallery.com