Die Kunst des in New York lebenden Südtirolers Rudolf Stingel lädt die Besucher zum Mitmachen ein. Aber das ist längst nicht alles: Seit rund 30 Jahren treibt Stingel das Medium Malerei immer wieder an seine Grenzen, indem er Kategorien wie Autorschaft, Authentizität, Original und Kopie radikal in Frage stellt. Jetzt zu besichtigen in der Fondation Beyeler in Riehen bei Basel
Ein bärtiger, dunkelhaariger Mann liegt auf dem Bett und starrt, durchaus versonnen und nachdenklich, an die Decke. Mit seinem frisch gestärkten weißen Hemd und dem Nadelstreifenjackett wirkt er wie eine Mischung aus Handlungsreisendem und Mafia-Paten. Das 2006 entstandene, 335 x 457 cm große Gemälde ist wie alle Bilder von Rudolf Stingel ein „Untitled“, lediglich der Zusatz „(After Sam)“ liefert einen Hinweis auf das Quellbild, eine Fotografie des Künstlerkollegen Sam Samore, über den es auf Wikipedia heißt: „Seine Arbeit beschäftigt sich mit der Erforschung von Privatsphäre und Mythos in der heutigen Gesellschaft. Er hat zahlreiche Arbeiten gemacht, die geeignete Fototechniken verwenden, die normalerweise von privaten Detektiven verwendet werden.“
Und tatsächlich, der Porträtierte scheint sich in diesem Augenblick vielleicht gar nicht der Tatsache bewusst zu sein, fotografiert zu werden. Auch dass sein Abbild einmal monumental vergrößert in einem Museumssaal hängen und womöglich vieltausendfach reproduziert durch Printmedien und das Internet geistern wird, ist ihm im Moment der Aufnahme noch nicht bewusst. Und doch hat der hier Porträtierte diese Entscheidung selbst so getroffen. Bei dem ganz in Grisailletönen ausgeführten Gemälde handelt es sich nämlich um ein Selbstporträt des international erfolgreichen New Yorker Malers Rudolf Stingel. Opulenz und Nachdenklichkeit, die große Geste und die beständige Infragestellung seiner eigenen Genialität durchziehen das Werk dieses Künstlers wie kaum ein anderes. Widersprüche, die es auszuhalten gilt: für Stingel ebenso wie für den Betrachter.
Die Fondation Beyeler in Riehen bei Basel widmet dem 1956 in Meran in Südtirol geborenen Künstler jetzt eine große Werkschau, die Arbeiten aus den letzten drei Jahrzehnten umfasst. Kuratiert hat die Ausstellung Udo Kittelmann, der Direktor der Berliner Nationalgalerie, der Stingel dort bereits 2010 eine große Ausstellung gewidmet hat.
Nachdem er es als junger Mann sowohl in Wien, in Mailand, als auch in Köln versucht hatte, erkannte Rudolf Stingel rasch, dass es mit dem Fußfassen innerhalb der europäischen Kunstszene nicht ganz leicht war. Als Südtiroler hing er permanent zwischen den Stühlen. Weder ging er als Österreicher durch, noch als „echter“ Italiener, noch als Deutscher. Warum also nicht nach New York gehen und es dort probieren? Mit 30 Jahren entschloss er sich im Jahr 1987, diesen Schritt zu wagen. Und tatsächlich, in der amerikanischen Kunstmetropole gelang ihm in drei Monaten, wofür er in Europa womöglich noch viele Jahre benötigt hätte. Er baute sich ein solides Netzwerk auf, fand ein angemessen großes und gut gelegenes Atelier in Manhattan, und es gelang ihm sogar, einige wichtige New Yorker Galeristen zum Studio Visit zu bewegen. Seit dieser Zeit ist Rudolf Stingel New York treu geblieben, auch wenn ihn die Sehnsucht nach Europa immer noch umtreibt. Immerhin unterhält er in seinem Geburtsort Meran ein zweites Atelier. Ein Grund mehr also, regelmäßig den Atlantik zu überqueren.
Die Ausstellung in der Fondation Beyeler ist die erste große Werkschau seit der fulminanten Präsentation 2013 im Palazzo Grassi in Venedig. Damals hatte Stingel die 28 Säle des am Canal Grande gelegenen Ausstellungshauses mit einem durchgängigen Teppichmotiv, das Wände, Decken und Böden bedeckte, zu einem homogenen Ganzen verdichtet, auf das er seine meist monumentalen Bilder hängen konnte. Jetzt also die teils tageslichtdurchfluteten und wunderbare Aussichten auf Park und Landschaft liefernden Räume der von seinem italienischen Landsmann Renzo Piano gebauten Fondation Beyeler.
Stingel breitet hier das ganze Spektrum seines bisherigen und aktuellen Schaffens aus: wandfüllende Gemälde, großformatige Arbeiten unter Verwendung unorthodoxer Materialien wie Styropor oder silbern beschichteter Dämmplatten, und an der Wand montierte Teppichböden, die zum Anfassen und sich mit den Händen Einschreiben einladen. Das Kunstwerk als „Public Collaboration“ also. Graffitiartige Spuren oder Textbotschaften, die sich nach und nach palimpsestartig überlagern, künden von der Lust des Publikums an solcherlei Mitmachkunst.
Hatte er bei seiner Ankunft in New York noch relativ farbig, eher im Stil des Informel gemalt, so entwickelte Stingel an seiner neuen Wirkungsstätte rasch eine ganz andere, viel konzeptueller unterfütterte Herangehensweise. „What is your work about?“ Von den Amerikanern immer wieder danach gefragt, worum es in seiner Kunst eigentlich gehe, entwickelte er 1989 seine „Instructions“, eine Art bebilderten Do-it-yourself-Guide zur Herstellung abstrakter Gemälde im Stingel-Stil. In sechs verschiedenen Sprachen erfährt der geneigte Stingel-Adept hier, wie er mit Hilfe von einigen Tuben Ölfarbe, einem Haushaltsmixer, einer Plastikschüssel, etwas Tüll und silberner Sprühfarbe ein abstraktes Gemälde à la Stingel herstellen kann.
Theoretisch, denn eigentlich ging es Stingel bei der Erstellung dieses fotoromanartigen Manifests weniger darum, massenhaft ihn kopierende Jünger heranzuziehen, sondern vielmehr, drängende Fragen zu stellen: Wer darf/kann oder soll eigentlich malen? Welche Produktionsweisen von Kunst gibt es heute? Wie viel Zufall will ich in meiner Kunst zulassen? Lässt sich der uralte Künstlermythos vom genialischen Einzelgänger im Zeitalter der Postmoderne überhaupt noch aufrechterhalten? Und falls nein, was tritt dann an seine Stelle?
Dass er überhaupt auf die Idee kam, Teppichböden als partizipatives Medium zu benutzen und auf diese Weise das Publikum in die Produktion seiner Bilder mit einzubeziehen, kam eher zufällig zustande. 1989 mietete Stingel den ehemaligen Ausstellungsraum der Firma „Magic Carpet“ auf der Houston Street als Atelier. Den dort verlegten Teppich fand er plötzlich wesentlich interessanter als seine damals entstehenden Bilder. Daraufhin beschloss er, bei einer Gruppenausstellung, zu der ihn der legendäre Ausstellungsmacher Colin de Land eingeladen hatte, den Ausstellungsraum einfach mit Teppich auszulegen und so „das Märchen von der Kreativität des Künstlers“ (Stingel) mutig auf den Prüfstand zu stellen.
Folgten die so entstehenden Fußspuren der Besucher hier noch eher dem Zufallsprinzip, so entsprach die nächste Variante schon ganz Stingels heutiger Praxis. Vom Boden wanderte der Teppich an die Wand. Die jetzt von den Besuchern hinterlassenen Wischspuren, Zeichnungen oder Texte waren intentional. Der Teppich wurde so zum sich ständig verändernden, nie abgeschlossenen Bild, an dessen Produktion eine unendliche Vielzahl von Autoren teilgenommen hatte. Solch ein orangefarbener Teppich, wie er damals von Stingel ausgestellt wurde, ist jetzt auch als Wandarbeit in der Riehener Ausstellung zu sehen.
Ab Ende der 1990er Jahre kamen Styroporplatten und seit den 2000er Jahren silbern beschichtete Dämmplatten als Bildträger hinzu. Auch in der Fondation Beyeler hat der Künstler einen ganzen Raum mit Celotex-Dämmplatten ausgefüllt. Auf einem großen Tisch laden Dutzende Exemplare des 3,4 Kilogramm schweren, orange-silbernen Katalogs zum Blättern ein. Angelegt als reines Künstlerbuch, verzichtet die gewichtige Publikation auf einführende Texte, bietet aber mit 475 Abbildungen auf 380 Seiten genug Anschauungsmaterial, um tief in das Stingel’sche Werk einzusteigen.
Die Ausstellung in Riehen zeigt Rudolf Stingel aber auch als Meister in der Auseinandersetzung mit ganz klassischen Bildthemen. Eine Art Blow-up aus seinen „Instructions“ gleich im ersten Raum zeigt in fotorealistischer Malweise eine Hand, die eine Spritzpistole über die Leinwand führt. Ähnlich wie sein wesentlich älterer amerikanischer Kollege Ed Ruscha, der die Malerei zunächst als „obsolet gewordene, archaische Form der Kommunikation“ auffasste, um dann doch Maler zu werden, scheint auch Stingel dem Medium in einer Art ambivalentem Abhängigkeitsverhältnis ausgeliefert zu sein.
Er muss malen, um über das Malen, die im Digitalzeitalter verbliebenen Möglichkeiten des Mediums, aber auch seine Grenzen zu reflektieren. Dass er dabei von ganz verschiedenen Quellbildern ausgeht und zwischen Abstraktion, Ornament und Fotorealismus zu den unterschiedlichsten Resultaten kommt, untermauert die Riehener Schau eindrücklich. Ein gigantisches Bergpanorama etwa basiert auf Glasplattenfotografien seines Vaters, die er mit allen vorhandenen Kratzern und Abplatzungen in grandiose Malerei umsetzt. Das relativ kleine Bildnis eines Fuchses in verschneiter Winterlandschaft hat Stingel einem Jagdkalender aus seiner Jugend entnommen. Und das große Blumentriptychon in einem der direkt ans Wasser angrenzenden Ausstellungsräume mit subtil eingebauten, leichten Blur-Effekten, die dem Betrachter ein Fixieren auf einzelne Details unmöglich machen, darf getrost als zeitgenössische Hommage an Claude Monets Seerosenbilder verstanden werden, die eines der Fundamente in der Sammlung der Fondation Beyeler bilden.
Egal ob allein, zusammen mit Assistenten oder Publikumsbeteiligung ausgeführt, ist nahezu allen Werken Rudolfs Stingels gemeinsam, dass ihnen der prozesshafte Akt ihrer Entstehung eingeschrieben ist. Die Spuren der Zeit, der Bearbeitung und der „verschiedenen, oszillierenden Aggregatzustände von Malerei“ (Udo Kittelmann) machen dieses Werk zu einem der spannendsten und nach wie vor zeitgenössischsten Beiträge innerhalb des internationalen Malereidiskurses. Anhand von 30 zentralen Arbeiten ist der Kosmos des Stingel’schen Werks jetzt in der Fondation Beyeler zu erleben. Wer Bilder nicht nur kontemplativ betrachten sondern auch verändern will, der kratzt, ritzt oder schreibt sich – natürlich nur da, wo es erlaubt ist – einfach selber ein. Falls noch ein Plätzchen frei ist.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Rudolf Stingel
Ort: Fondation Beyeler, Riehen/Basel, Schweiz
Zeit: bis 6. Oktober 2019. Täglich 10-18 Uhr. Mittwochs 10-20 Uhr
Katalog: zur Ausstellung erscheint ein Künstlerbuch. Verlag Hatje Cantz, 475 S., 380 Abb., 58 Euro /65 CHF
Internet: www.fondationbeyeler.ch