Das Jahr 2022 startet, so steht zu befürchten, mit langen, dunklen Tagen im häuslichen Lockdown. Für etwas Abwechslung sorgt da vielleicht „Kasper König’s Kurioser Kunst Kalender“ der jetzt erstmals bei StrzeleckiBooks erschienen ist
Kasper König, ehemaliger Direktor des Museum Ludwig in Köln, Mit-Erfinder und regelmäßiger Co-Kurator der Skulptur Projekte in Münster und bis heute äußerst umtriebiger Akteur, Strippenzieher und Beobachter im deutschen und internationalen Kunstbetrieb, ist bekannt für sein nonkonformistisches Auftreten und seine durchaus direkte Art. Der 1943 geborene münsterländische Industriellensohn brach kurz vor dem Abitur die Schule ab, verweigerte Wehr- und Zivildienst, ließ sich einen Maßanzug schneidern und zog erstmal nach London und dann weiter nach New York, wo er laut eigener Aussage „am richtigen Ort zur richtigen Zeit die richtigen Leute traf“ und tief in die Kunstszene eintauchte. Der Kontakt zu Größen der Pop Art wie Andy Warhol oder Claes Oldenburg ergab sich fast wie von selbst. König blieb erstmal und begann, erste Ausstellungen zu organisieren. Sozialisiert wurde er also durchaus auch in New York City.
Dass so einer sich, was seinen schnellen Informationsaustausch betrifft, nicht unbedingt gerne der heutzutage weitverbreiteten, aber eher konventionellen Kommunikationsmittel E-Mail oder WhatsApp bedient, ist da nicht weiter verwunderlich: Kasper König ist der wohl aktivste Postkartenschreiber des Kunstbetriebs. Sein Archiv selbstgestalteter oder modifizierter Postkarten umfasst unzählige Exemplare – und immer wieder kommen neue hinzu. Während langatmiger Podiumsdiskussionen oder Gremiensitzungen kommt es immer wieder vor, dass König in seinen Taschen kramt, eine Postkarte rausholt, sie nach und nach mit aufgeklebten oder aufgetackerten Elementen versieht, beschriftet und frankiert. Normalerweise kommt nur ein auserwählter Kreis in den Genuss, eine dieser extraordinären Postsendungen zu empfangen. Damit aber ein größeres Publikum an Kasper Königs Vorliebe für den nichtdigitalen Nachrichtenversand teilhaben kann, hat der Ausstellungsmacher jetzt zusammen mit StrzeleckiBooks in Köln die erste Ausgabe von „Kasper König’s Kurioser Karten Kalender“ gestaltet. Dieser kommt als Wochenkalender mit praktischem Pappständer zum Aufstellen, beispielsweise auf dem Schreibtisch, daher und versammelt eine repräsentative Auswahl collagierter Karten, ergänzt um Illustrationen der vielfach ausgezeichneten Leipziger Illustratorin Anna Haifisch. Weitere Ausgaben des Kalenders sollen in den nächsten Jahren folgen.
Einen Spaghetti verschlingenden Don Camillo kombiniert König mit einer kleinen Abbildung von Maurizio Cattelans Skulptur „La Nona Ora“, die den von einem Meteoriten niedergestreckten Papst Johannes Paul II. zeigt. Dazu der offenbar irgendwo ausgerissene Schriftzug „Lieblingsgast“. Die Comicfigur des Detektivs Nick Knatterton wiederum befestigt er mit übertrieben vielen Tesafilm-Streifen auf einer Piet Mondrian-Postkarte. Königs visuelles Vokabular umfasst Fußballer, Ostereier, Jacken, Westen, Mäntel, Singvögel, Affen, Eulen, Saurier, Fledermäuse, Weihnachtsschmuck, einen roten Cadillac, Ausschnitte aus Reisekatalogen oder Discounter-Prospekten, Karikaturen, Comics, aus dem Zusammenhang gerissene statistische Darstellungen und ab und zu auch eine leicht bekleidete oder gar nackte Frau. Eine ganz und gar unbeklebte Postkarte wiederum zeigt den elegant gekleideten, jungen Kasper König, wie er, ein Hollandrad auf einem Feldweg schiebend, offenbar von seiner münsterländischen Heimat in die große weite Welt der Kunst aufbricht. Kasper Königs bunter Bilderkosmos speist sich aus anekdotischen Privataufnahmen und all dem, was vielen von uns täglich mit der Post ins Haus flattert, aus Zeitungsausschnitten und Illustriertenseiten ebenso wie Kunstpostkarten oder ausgeschlachteten Kunstbänden.
Andy Warhol taucht gleich mehrmals auf, daneben aber auch Werke oder Werkfragmente von Henri Matisse, René Magritte, El Lissitzky, Anna & Bernhard Blume, Roger Ballen oder Hans-Peter Feldmann. Ihre besondere Qualität erhalten diese Postkarten durch die mitunter kühne bis verwegene Kombinatorik, mit der König hier zu Werke geht. Eine gotische Madonna mit dem Kinde trifft auf einen ausgeschnittenen Salatkopf. Und eine Außenaufnahme von Dino’s Diner in Los Angeles, einem fleischlastigen Kult-Imbiss unweit des dortigen Art Districts, wird mit einem leeren Medikamentenbeutel aus transparentem Plastik beklebt, der mit Morning, Noon, Evening und Night beschriftet ist. Vielleicht ein kleiner Seitenhieb auf allzu strenge Ärzte, die älteren Herren das fettige Essen verbieten und stattdessen bittere Pillen verordnen wollen? Ab und zu taucht auch ein schwarz-weißes Selbstporträt im typischen Kasper-König-Stil auf: mit breiten Hosenträgern vor einem Bücherregal und überaus selbstironisch mit einem aufs Brillenglas geklebten Glupschauge Marke Scherzartikelgeschäft.
Kurz vor ihrer Einführung durch die Österreichisch-Ungarische Post am 1. Oktober 1869 und ein Jahr später dann in Deutschland kritisierten ihre Gegner die Postkarte noch als „unanständige Form der Mitteilung auf offenem Postblatt“. Doch sie konnten den Siegeszug des für Jedermann erschwinglichen, ebenso zwanglosen wie unkomplizierten Korrespondenzmediums nicht mehr aufhalten. Ihre Blütezeit erlebte die Postkarte in der Zeit vor dem Ersten Weltkrieg. Doch auch mit dem Aufkommen des Massentourismus nach dem Zweiten Weltkrieg schossen die Versandzahlen wieder in ungeahnte Höhen. Ob aus Rimini, Mallorca, den Alpen oder von der Costa Blanca: Oft enthielten die millionenfach verschickten Reisepostkarten nur wenige fantasielose und eher floskelhafte Sätze nach dem Muster: schönes Hotel, gutes Wetter, tolle Aussicht. Kasper Königs individuell gestaltete Kurzmitteilungen im genormten DIN-A6-Format sind da ganz anders: Sie persiflieren kleinbürgerliche Sehnsüchte, etwa wenn es über der Aufnahme eines spießig eingerichteten Wohnzimmers im Stil der 1950er Jahre heißt: AUFRÄUMEN! MUTTI KOMMT!. Oder aber sie stellen die Grundzüge der protestantischen Arbeitsethik in Frage, die Arbeit bloß als Selbstzweck und nicht als Selbstverwirklichung betrachtet. Den irgendwo ausgeschnittenen, in Rot gedruckten Spruch „Arbeit, Arbeit, nichts als Arbeit“ kommentiert König lakonisch mit einem handschriftlich hinzugefügten schlichten „warum?“. Es gibt nachdenkliche ebenso wie kalauernde Motive, jugendlich-aufrührerische ebenso wie altersweise und lebenskluge. Manchmal verbreiten sie aber auch einfach nur gute Laune. So etwa das Kalenderblatt für die erste Maiwoche mit dem leicht ramponierten Katalogcover der von König mitorganisierten Andy Warhol-Ausstellung 1968 im Moderna Museet in Stockholm. Es zeigt Warhols berühmte „Flowers“ und dazu fünfmal das mit Filzstift geschriebene Wort „Good“.
Kasper König ist dem von den Jüngern des Digitalzeitalters als anachronistisch empfundenen Medium der Postkarte bis heute treu geblieben. Seine elaborierten Collagen will er übrigens ausdrücklich nicht als Kunst verstanden wissen. Er selbst sagt: „Ich beschäftige mich mit dem, was Künstler machen und was Kunst ausmacht. Aber ich sehe das jetzt nicht als künstlerische Aktivität. Es ist mehr wie eine Therapie. Ich kann mein Tagesgeschäft damit gut machen.“ Alles in allem ist „Kasper König’s Kurioser Karten Kalender“ also das perfekte Weihnachtsgeschenk für aufgeschlossene Kunstliebhaber:innen, die allerdings keinen Anstoß daran nehmen sollten, dass sein Urheber es mit der Political Correctness nicht immer ganz genau nimmt, und es manchmal auch etwas spätpubertär mit ihm durchgeht.
Auf einen Blick:
Titel: Kasper König’s Kurioser Karten Kalender 2022, feat. Anna Haifisch, Illustrationen
Verlag: StrzeleckiBooks
52 farbige Postkarten, Spiralbindung, mit Stehvorrichtung
19,80 Euro