Die Ambivalenz des Exotischen: Der Düsseldorfer Künstler Christian Odzuck bespielt die Kunsthalle Lingen mit einem Hybrid aus Architektur und Zimmerpflanzen und stellt drängende Fragen nach der Zukunft des Bauens und Zusammenlebens im Zeitalter von Klimawandel und Flächenverbrauch
Die Kunsthalle Lingen befindet sich in den ehemaligen Werkstatthallen eines vor mehr als 100 Jahren errichteten und bis in die 1960er Jahre in Betrieb befindlichen Eisenbahnausbesserungswerks. Die lichte, hohe Halle bietet somit ideale Voraussetzungen, auch raumgreifende und komplexe Installationen zu zeigen.
So auch im Fall der aktuellen Ausstellung. Der 1978 in Halle an der Saale geborene, seit vielen Jahren in Düsseldorf lebende Künstler Christian Odzuck zeigt jetzt unter dem Titel „Casa Senza Noma“ eine aus 1200 Brettern bestehende Konstruktion, die diversen Pflanzen ein temporäres Zuhause bietet. Alle Bretter sind einheitlich steingrau gestrichen und passen sich auf diese Weise der ohnehin in der Halle präsenten Farbe von Säulen, Decken und Tragebalken an. Was auf den ersten Blick vielleicht wie ein chaotisches Gestänge wirkt, ist bis ins Detail ausgetüftelt. Jeweils drei Bretter bilden einen Knoten. Die Arbeit besteht aus exakt 400 Knotenverbindungen, die ihr die nötige statische Stabilität verleihen. Theoretisch ließe sich dieses System aber auch nahezu endlos erweitern. Insgesamt ergibt sich ein amorphes, an eine große Wolke erinnerndes Gebilde, welches vom Publikum umrundet werden muss, um überhaupt einen Eindruck von der Form und den Dimensionen zu erhalten. Ungefähr in der Mitte befindet sich auf Bodenhöhe ein kleiner Durchgang, durch den die Besucher:innen sich auch hindurchschlängeln können, um auf kurzem Wege auf die andere Seite zu gelangen.
Das einheitliche Steingrau der Konstruktion wird an etlichen Stellen durch verschieden abgestufte Grüntöne aufgelockert. Christian Odzuck hat in einem lokalen Gartencenter eine große Auswahl typischer Zimmerpflanzen erworben, wie sie auch in Privathäusern, Büros, Geschäfts- und Verwaltungsräumen oder Foyers zu finden sind. Pflegeleichte, immergrüne und gezähmte Exotik, angepasst an die menschliche Umgebung.
Die Pflanzen werden jedoch nicht in handelsüblichen Blumentöpfen präsentiert, sondern in eigens vom Künstler entworfenen und im 3-D-Druck produzierten, schwarzen Gefäßen. Mit ihren an gedrechseltes Holz erinnernden, fantasievollen Formen nobilitieren sie die eher profanen, eigentlich überall erhältlichen Pflanzen, darunter etwa Minipalmen, Efeu, Sansevierien, diverse Farne und Kakteen. Die gestufte Präsentationsweise bringt zudem an einigen Stellen kaskadenartig wuchernde Blattformationen hervor, die, würde man der Versuchsanordnung eine längere Lebensdauer zubilligen, wohl irgendwann über die Unterkonstruktion dominieren würden.
Motivischer und programmatischer Ausgangspunkt der Installation sind die mythenumwobenen Hängenden Gärten von Babylon, deren Errichtung unterschiedlichen Quellen zufolge mal der Königin Semiramis, mal dem König Nebukadnezar zugeschrieben wird. Sie gehörten zu den sieben Weltwundern der Antike, wurden circa 600 vor Christus errichtet und befanden sich auf dem Gebiet des heutigen Irak nahe dem Fluss Euphrat. Vollkommen gewiss ist ihre Existenz aber bis heute nicht, da sich die schriftlichen Überlieferungen teilweise widersprechen und der konkrete Ort nicht mit abschließender Sicherheit ausgemacht werden konnte. Als Denkmodell für den fruchtbaren Dialog zwischen Architektur und Natur aber gehören sie zum kulturellen Erbe der Menschheit.
Christian Odzuck ist dafür bekannt, gegen die Wahrnehmungsroutinen des Publikums anzuarbeiten und mit seinen Arbeiten von teils immensen Dimensionen produktive Denkprozesse bei den Betrachter:innen anzustoßen. In der Natur der Dinge liegende Ambivalenzen zeigt er dabei subtil auf, er verzichtet aber auf didaktische Untertöne.
So schuf er 2017 für die Skulptur Projekte Münster aus Holz, Stahl, Beton und einigen noch vorhandenen originalen Bauelementen das Replikat einer architektonisch bemerkenswerten Rampe, die er 1:1 vom Gebäude der Münsteraner Oberfinanzdirektion übernommen hatte. Die Arbeit trug den Titel „OFF OFD“. Das die bundesrepublikanische Nachkriegsmoderne repräsentierende Ensemble war kurz zuvor abgerissen worden und fand in Odzucks partiellem Nachbau einen temporären Widerhall, der zum Nachdenken über Veränderungen im Stadtraum, die Entsorgung des Alten und Prozesse der Erneuerung und Umgestaltung anregte.
2021 wiederum realisierte er in den historischen Vitrinen in der Eingangshalle des Bahnhofs Hamburg-Dammtor eine Ausstellung mit fiktiven und fantastischen Objekten, die zwar entfernt an der Natur entnommene Fundstücke erinnern, jedoch allesamt aus Kunststoff sind und dem 3-D-Drucker entstammen. Die Arbeit mit dem Titel „Teatrino Scientifico“ spielt auf den Wissenschaftsbetrieb früherer Jahrhunderte ebenso an wie auf das Phänomen der Wunderkammer sowie die benachbarte Universität und den alten botanischen Garten „Planten un Blomen“.
Odzucks Arbeiten basieren immer auf einer intensiven Recherche und der Auseinandersetzung mit den historischen, gesellschaftlichen, politischen und ökologischen Umständen ihrer Entstehung. Seine fertigen Werke legen das Publikum jedoch nie auf bloß eine vorgegebene Lesart fest. Vielmehr überzeugen sie durch eine gewisse Ambiguität. So auch im Fall der Lingener Installation „Casa Senza Noma“.
Beschäftigt man sich mit der Entstehungsgeschichte der Hängenden Gärten von Babylon, so erfährt man schnell, dass so ein Kolossalbau damals ohne Sklavenarbeit und die Umlenkung enormer Wassermengen nicht möglich gewesen wäre. Andererseits fasziniert am Prinzip der Hängenden Gärten auch das ihm zugrunde liegende kollaborative Zusammenwirken unterschiedlichster Akteur:innen und Fachleute. Bei einem derart großen Vorhaben wie der Lingener Installation reicht es nicht, sich das Ganze auszudenken. Für die Umsetzung brauchte es neben dem Künstler und seiner Assistentin zahlreiche andere Mitwirkende. Vom Architekten und Statiker über den ausführenden Tischler bis hin zum vielköpfigen Aufbauteam unter der Leitung von Peter Lütje und der Kuratorin Meike Behm waren zahlreiche Beteiligte in das Projekt eingebunden.
Körperlich anstrengende Arbeit kann schon heute vielfach mit der Hilfe ausgeklügelter Technologien und Maschinen erleichtert werden. Und so wäre es in nicht allzu ferner Zukunft vielleicht auch möglich, naturnahe visionäre Wohnformen zu realisieren, die weitgehend ohne die Ausbeutung menschlicher Arbeitskraft und gleichzeitig auch unter Wahrung strenger ökologischer Kriterien realisiert werden können.
Der niederländische Künstler Constant Anton Nieuwenhuys (1920-2005), kurz Constant genannt, hat sich solche utopischen Visionen bereits Mitte der 1950er Jahre ausgedacht. Sein Werk wurde gleich mehrfach auf der documenta gezeigt. So auch das Projekt „New Babylon“, in welchem er eine „weltweite Stadt der Zukunft“ imaginiert hat, auf der von Okwui Enwezor kuratierten documenta 11. Alles gehört in „New Babylon“ Allen, die Arbeit ist vollständig automatisiert, und das nomadische Subjekt genießt ein Freizeitleben voller kreativer Spielangebote.
Christian Odzuck knüpft mit „Casa Senza Noma“ an diese Vision an. Die von Pflanzen besiedelte Holzstruktur versinnbildlicht auch für ihn so etwas wie eine ideale Stadt: eine luftig-leichte, im Prinzip unendlich erweiterbare Modulsiedlung, in der sich im Einklang mit der Natur leben ließe.
In seiner Videoarbeit „The City of the Horizon“, die im Kabinett neben der großen Ausstellungshalle gezeigt wird, imaginiert Christian Odzuck schon einmal eine zukünftige Welt, in der eine von Pflanzen überwucherte Wolke, die stark an die Lingener Installation erinnert, mit großer Leichtigkeit von New York nach Tokio und weiter in die Südsee schwebt. Das Luftschloss dockt anscheinend überall an und materialisiert sich als gebaute Architektur. Insofern kann Christian Odzucks Lingener Ausstellung auch als ein leidenschaftlicher Appell für ein naturgerechteres und klimafreundlicheres Grünes Wohnen gelesen werden. Die exotischen Zierpflanzen könnte man ja vielleicht noch durch essbare Gemüsesorten ersetzen.
Auf einen Blick:
Ausstellung: Christian Odzuck– Casa Senza Noma
Ort: Kunsthalle Lingen
Zeit: bis 14. Janur 2024
Di-Fr 10-17 Uhr, Sa und So 11-17 Uhr
22.–31. Dezember 2023 geschlossen
kostenlose öffentliche Führungen: sonntags 15.30 Uhr
Internet: www.kunsthallelingen.de